The Haunting
Spannungskonzept und Wirkung eines Genreklassikers
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Diese Untersuchung stammt aus meiner Studienzeit aus dem Jahr 2007.
1963 inszenierte der US-Amerikanische Regisseur Robert Wise den Horrorfilm The Haunting (Deutscher Titel: Bis das Blut gefriert) nach dem Roman „The Haunting of Hill House“ von Shirley Jackson. In diesem wird eine ausgewählte Gruppe von Menschen vom Wissenschaftler Dr. Markway, der das Übernatürliche untersuchen möchte, in das Anwesen Hill House in Neu England geladen. Darunter befindet sich Eleanor Lance, welche nach dem Tod ihrer Mutter einen neuen Beginn im Leben sucht und eine Verbindung zu dem Anwesen mit seiner düsteren Vergangenheit aufbaut.
Den Film habe ich ein Jahr vor dieser Untersuchung zum ersten Mal gesehen. Der Beweggrund zu dieser Auseinandersetzung ist so einfach wie nahe liegend: Wie hat es ein alter Schwarz-Weiß-Film aus den 60er Jahren geschafft, solch eine ungeheure Spannung aufzubauen und mir eine beträchtliche Portion Angst einzujagen? Schließlich sollte man heutzutage was Horrorfilme betrifft schon so einiges gewohnt sein.
Robert Wise selbst wurde von vielen Leuten gefragt: „Mr. Wise, das ist der spannendste Film, den ich je gesehen habe. Wie haben sie das gemacht? Sie zeigen ja gar nichts. Man hört doch nur Geräusche.“ (Wise in Beier 1996, 191) Diesen Eindruck hatte ich auch. Jedoch scheint mehr dahinter zu stecken als eine gute Tonspur.
Zum Zweck der Untersuchung möchte ich in den folgenden Kapiteln besonders eine Schlüsselszene unter den Aspekten „Verhältnis zwischen Ton und Bild“, „Einsatz von Informationen“ und zuletzt „moderne Rezeption“ analysieren.
Man sieht ja gar nichts – Zum Verhältnis von visueller und auditiver Informationen
Bei seiner Vorgehensweise zur Inszenierung von Spannung nahm Robert Wise Mittel zur Hilfe, die er bei der früheren Zusammenarbeit mit Produzent Val Lewton erlernt hatte.
„Lewton machte aus der ökonomischen Not eine filmische Tugend und entwickelte eine Ästhetik des Verzichts. Während den Zuschauern in Universals Horrorfilmen das Grauen vor Augen trat, bestand Lewtons Meisterschaft darin, es den Blicken des Publikums zu entziehen.“
(Beier 1996, 34)
„Die explizitere Darstellung von Gewalt und Grauen gewöhnte das Publikum über die Jahre daran, nur noch an die Existenz dessen zu glauben, was sie mit eigenen Augen sehen konnten. Bei The Haunting dagegen ist der Zuschauer ganz Ohr. Wise steigerte Val Lewtons Verfahren der indirekten Inszenierung ins Extrem und führte das Genre auf die Tonspur zurück.“
(Beier 1996, 93)
Die Spannungswirkung aber hauptsächlich auf die Tonspur zu schieben scheint eine zu einfache Lösung zu sein und würde ein Hörspiel als den besseren Horrorfilm bezeichnen. Aufschluss kann wohlmöglich die genaue Analyse der visuellen und der auditiven Informationen und ihrem Zusammenspiel geben.
„Wessen Hand habe ich gehalten?“
In der zu untersuchenden Sequenz (ab der 86. Minute) geht Eleanor in Hill House zu Bett. Thea, die zweite an der Studie teilnehmende Frau, liegt neben ihr. In der Nacht wird der Schrecken lebendig. Eigenartige Stimmen erfüllen den Raum und eine normale Tapete scheint sich in eine Fratze zu verwandeln, welche Eleanor anstarrt. Eleanor spricht in dieser Sequenz zu Thea und hält ihre Hand. Nachdem der Spuk vorüber ist, muss sie erkennen, dass sie gar nicht mehr in ihrem Bett lag. Folglich war es auch nicht Theas Hand, die sie gehalten hat.
Die Grafik 1 zeigt die gesamte Sequenz mit ihren Bildeinstellungen. Geräusche sind separiert und zur Unterscheidung farblich markiert. Zwischen Einstellung 1 und 2 gibt es im Film noch weitere Einstellungen in dwelchen man sieht, dass Eleanor und Thea in einem Tagebuch blättern. Diese wurden in der Grafik ausgespart, da sie nicht zur Untersuchung benötigt werden.
Wie bereits auf den ersten Blick ersichtlich wird, gibt es auf der visuellen Ebene nicht besonders viel Abwechslung.
Was geht aus der Bildebene an Informationen hervor?
Eleanor und Thea liegen zusammen in einem Bett – Es ist Nacht – Eleanor schaut eine Tapete an – Sie scheint sich zu fürchten – Im Tapetenmuster wird in Zügen ein fratzenhaftes Gesicht erkennbar – Eleanor spricht mit Thea – Ihr Gesicht beschreibt Panik – Sie schaut zum Gesicht der Tapete – Sie spricht wieder mit Thea – Sie hat Angst – Sie schreit – Das Licht geht an – Thea springt auf und schaut zu Eleanor und sagt etwas zu ihr – Eleanor befindet sich nicht in ihrem Bett – Sie schaut auf ihre Hand – Etwas scheint mit der Hand nicht zu stimmen.
Was geht aus der Tonebene hervor?
Die Musik klingt unheimlich – Es ist windig – Eine männliche Stimme murmelt unverständliche Worte – Eleanor spricht mit Thea; sie solle nicht antworten; etwas solle nicht wissen, dass sie mit im Zimmer ist – Eine Frau lacht – Thea hält Eleanors Hand – Die männliche Stimme klingt wütender – Es wird leise – Thea drückt Eleanors Hand zu fest – Ein Baby weint – Eleanor wird wütend und will dem ein Ende bereiten – Sie schreit „Aufhören!“ – Die Musik wird dramatischer – Eleanor weiß nicht wessen Hand sie gehalten hat.
Dass man also „nichts“ sieht, scheint also nicht zu stimmen. Man muss eher sagen, dass man nicht viel sieht. „It’s because you think you see more than you do […] One begins to feel that one is seeing things that are frightening. But actually, they aren’t if you really would sit down and look at it in a dispassionate way“ (Johnson 2003, 43. Minute)
In der Tat sagt die Bildebene nichts weiter aus, als dass sich Eleanor vor einer Tapete fürchtet. Der Ton allein ist zwar unheimlich, aber für sich genommen sehr zusammenhangslos. Was passiert also im Zuschauer, das diese Szene so spannend macht?
Top-Down, Bottom-Up und Topic Reihen
David Bordwell schreibt über den Top-Down und Bottom-Up Prozess:
„In some cases, the inference proceeds principally ‚from the bottom up,’ in which conclusions are drawn on the basis of the perceptual input. Colour perception is a good example. Other processes, such as the recognition of a familiar face, operate ‚from the top down.’ Here the organization of sensory data is primarily determined by expectation, background knowledge, problem solving processes, and other cognitive operations. Both bottom-up and top- down processing are inferential in that perceptual ‚conclusions’ about the stimulus are drawn, often inductively, on the basis of ‚premises’ furnished by the data, by internalized rules, or by prior knowledge.“
(Bordwell 1985, 31)
Gerade in dieser Sequenz lassen sich einige Top-Down Prozesse veranschaulichen, die zu der Wirkung der Spannung führen. Das Erkennen (nicht das Wiedererkennen) eines Gesichtes ist uns angeboren und funktioniert im Bottom-Up Prinzip. Es wurde untersucht, „dass schon Neugeborene Formen unterscheiden können (Kreise, Dreiecke usw.). In diesen Bereich hinein fällt auch das Erkennen von Gesichtern von Geburt an.“ (Candreia 2001, 3) So erscheint aus einem Tapetenmuster und geschickter Beleuchtung etwas, dass wir mit Augen und Mund verbinden, was zu der Erkenntnis „Gesicht“ führt. Erst im Top-Down Prozess wird aus den erkannten Gesichtsmerkmalen eine verstörende Fratze.
Im Bottom-Up Prinzip nehmen wir auch alle anderen akustischen Effekte auf. Das Murmeln eines Mannes ist das Murmeln eines Mannes. Ein weinendes Baby ist ein weinendes Baby. Diese voneinander eigentlich völlig unabhängigen Geräuschfragmente werden im Top-Down Prinzip miteinander in Relation gebracht und erhalten so ihre (unheimliche) Bedeutung und Wirkung. Die männliche Stimme wird mit dem „Gesicht“ verbunden. Ein schreiendes Baby impliziert Gefahr. Kombiniert folgern wir diffus: Diese Fratze bedroht ein Kind. Eine wahnsinnige Frau lacht dabei etc. Wir bringen diese Indizien in einen Sinnzusammenhang. Die auditive Ebene hilft hierbei, das Gesehene im Top-Down Prozess zu deuten. So können wir z.B. Eleanors sich verändernden Gesichtsausdruck in Einstellung 12 nicht ohne die Audio-Information „ihre Hand schmerzt“ durch ihren gesprochenen Text eindeutig interpretieren.
Peter Wuss entwickelte zum Zweck der Filmanalyse ein dreistufiges Modell der Filmwahrnehmung, das so genannte PKS-Modell, in welchem kognitive Schemata auf Ebenen der Perzeption, Konzeptua- lisierung und Stereotypenbildung miteinander interagieren.
Das überraschende Ende der Sequenz erhält seine Wirkung durch den perzeptiven Charakter (vgl. Wuss 1999) von Eleanors (Gedanken-) Monologe, die sich wie ein roter Faden durch den Film ziehen. Robert Wise begründet diesen starken Gebrauch wie folgt: „We had so much voice over in the film because we had to get inside of her head“ (Wise 2003, 17. Minute). Der Zuschauer soll die Welt von Eleanor also subjektiv wahrnehmen.
„Subjectivity, then, may be conceived as a specific instance or level of narration where the telling is attributed to a character in the narrative and received by us as if we were that character.
(Branigan 1984, 73)
Der Gebrauch der (Gedanken-) Monologe Eleanors sind, neben der Subjektivität der Wahrnehmung, als perzeptive Invariante im Film zu sehen. Sie
„schafft beim Rezipienten gegenüber ähnlichen Erscheinungen eine spezifische Wahrnehmungs-Disposition. Er baut im Prozess seines Wahrnehmungslernens ein Erwartungsmuster statistischer Art auf, geht also mit einem Verständnis möglicher Regelhaftigkeit, die dort zu finden sein könnte, an sie heran.“
(Wuss 1999, 135)
Dadurch deuten wir das Gesagte Eleanors auch als wahr und hinterfragen es nicht. So erwarten wir auch kein Bild von Thea, wie sie Eleanors Hand hält. Die Regelhaftigkeit ihrer Gedanken lässt uns nicht daran zweifeln, dass sie tatsächlich nach Theas Hand greift und diese hält. „Die perzeptiv geleiteten Topik-Reihen erzeugen aufgrund ihrer semantischen Instabilität nur latente Erwartungshaltungen.“ (Wuss 1999, 100) Diese latente Erwartung, nämlich das Voraussetzen, dass alles, was Eleanor erzählt „wahr“ ist, führt zu der verstörenden Überraschung, dass sie gar nicht Theas Hand gehalten hat und nicht einmal neben ihr lag. Unser unterbewusstes Vertrauen wurde gebrochen.
„Basisformen des filmischen Erzählens dürfen vielmehr dominant an ‚Zeigen’ und nicht an ‚Sagen’ gebunden sein. Und die Zeigehandlung orientiert sich offenbar an kollidierendem Handeln, das zu komplexen Problemlösungsprozessen führt, die der Zuschauer sinnlich miterleben muss. Verbale Äußerungen können dieselben beeinflussen, jedoch offenbar nicht wirklich fundieren oder gar ersetzen.„
(Wuss 1999, 117)
Wie gezeigt wurde, teilen die Bilder das grundlegende Spannungsmoment mit, auch wenn es – wie bereits erwähnt – banal ausgedrückt nur „Angst vor Gesicht auf Tapete“ ist. Doch durch den geschickten Einsatz des Tons werden die Bilder immens in ihrer Wirkung beeinflusst. „The sense of hearing is as subtle as it is archaic. We often relegate it to the limbo of the unnamed; something you hear causes you to feel X, but you can’t put exact words to it.” (Chion 1982, 17) Es muss auch gar nicht exakt beschrieben werden. Dieses diffuse X, das Michel Chion beschreibt, wird als Top-Down Prozess im Kopf mit den gegebenen Bildern verknüpft und konkretisiert das Gesehene. So entsteht der oben von Richard Johnson erwähnte Eindruck, man sehe mehr als man es tatsächlich tut.
Folglich geht die Spannung nicht hauptsächlich vom Ton aus. Sie ist bereits durch die Bilder, dem Moment des Erkennens eines fremdartigen Gesicht-Schemens, gegeben und wird (in einem hohen Maße) durch den Ton mitgestaltet. „We should emphasize that between one (visualized) situation and the other (acousmatic) one, it’s not the sound that changes its nature, presence, distance, or colour. What changes is the relationship between what we see and what we hear.“ (Chion 1982, 19)
Wie viel wissen wir eigentlich? Spannung durch Informationsdefizit
„Jede Spielfilmsituation baut, indem sie eine mehr oder weniger dramatische Handlung vorführt, mit dem dort etablierten Konflikt vor dem Zuschauer eine Problemsituation auf, die einer Lösung harrt. Und sie steuert dabei den Zufluss an pragmatischer Information, mit deren Hilfe der Rezipient in der Lage ist, diese Problemlösungssituation zu überwinden. Die Informationsdefizite werden dabei für den Zuschauer immer wieder spürbar: in einer Art Spiel wird versucht, sie gelegentlich bewusst zu machen, den Informationsgewinn dabei zu forcieren, auch zu verweigern und die Informationsdefizite am Ende doch auszugleichen. Die emotionalen Spannungen, die dabei entstehen, können die Kompensation beschleunigen, sie unterstützen oder sie auch umgekehrt verlangsamen und hemmen.“
(Wuss 1999, 320)
Peter Wuss beschreibt hier eine Spannungserzeugung durch das Verhältnis von Informationsgewinn und –verlust. The Haunting präsentiert sich aus der Subjektive von Eleanor Lance. Der Zuschauer erfährt ihre persönliche verzweifelte Situation kurz nach dem Ableben ihrer Mutter, um die sie sich Jahre kümmern musste und ihr eigenes Leben nicht leben konnte. Er erfährt durch den Einsatz von Gedankenmonologen ihre Wünsche und Ängste und auch dass sie in dem Abenteuer Hill House eine Chance im Leben sieht. Der Film verlässt diese Perspektive nicht. So bleiben die Gedanken der anderen Charaktere verborgen. Eleanors Vermutungen sind auch die des Rezipienten. Da der Spuk wie bereits beschrieben nicht explizit visualisiert wird und vieles seine Bedeutung erst durch die Tonspur erhält, liegt eine Vermutung nahe, die Drehbuchautor Nelson Gedding konkret benennt: „The Challenge, what we wanted to do is: We see nothing. That was the challenge, and that was the original going in. Show them nothing and let it all happen in her mind.” (Gedding 2003, 15. Minute)
Der Zuschauer deutet das Gesehene anhand der auditiven Ebene, deren bedeutsamer Teil die Gedanken von Eleanor sind. Da wir die Geschichte zusätzlich nur aus ihrer Perspektive wahrnehmen, kann es sein, dass die Geräusche ebenfalls nur ein Fabrikat ihrer Fantasie sind. Diese Vermutung, deren Bestätigung ein Informationsdefizit verkleinern würde und dem Rezipienten mehr Sicherheit beim Entschlüsseln des Filmes geben würde, wird aber gebrochen durch Sequenzen, in denen die anderen Figuren des Films offensichtlich auch dieselben Geräusche hören. So legt es die Erzählung des Films darauf an „ein Spiel mit der Unbestimmtheit von Ereignisfolgen zu treiben, und umgekehrt auch ein Spiel mit der Kontrollkompetenz des Rezipienten. Darin eben liegt die Quelle der Spannung als Invariante vieler emotionaler Aktivitäten.“ (Wuss 1999, 327) Untersucht man die erwähnte Sequenz „Wessen Hand habe ich gehalten“ auf ein Defizit von Information ausgehend durch die subjektive Erzählperspektive so stößt man auf zweierlei Dinge: erstens ist es uns nicht möglich das Geschehen aus der Perspektive von Thea oder auch Dr. Markway zu verfolgen um Klarheit darüber zu gewinnen, wie viel von dem, was wir zusammen mit Eleanor wahrnehmen auch wahr ist. Zweitens sehen wir vorausgehend zwar, dass Eleanor zusammen mit Thea in einem Bett liegt. Jedoch wird uns verwehrt zu erfahren, was bis zu dem Punkt passiert, an dem sie aufwacht und Thea nicht mehr zu sehen ist, ihre unmittelbare Anwesenheit aber vorausgesetzt wird. Wohlmöglich hätte sie selbst im Schlaf das Bett verlassen können, was die These des „all happens in her mind“ unterstützen würde. Da der Rezipient aber an ihr Bewusstsein gebunden ist, bleibt ihm diese Information (unterbewusst) verwehrt.
„Kunstwirkungen lassen sich über das Verhältnis von positiven und negativen Emotionen charakterisieren. Wenn trotz Zuführung von Informationen ein Defizit an pragmatischer Information verbleibt, entsteht laut Simonov eine negative Emotion. […] Vorraussetzung für die positive Emotion ist lediglich die Beseitigung des Informationsdefizits.„
(Wuss 1999, 320)
Da am Ende des Filmes das Informationsdefizit nicht ausgeglichen wird (Niemand weiß, was tatsächlich vorgefallen ist: War es wohlmöglich nur Einbildung seitens eines verwirrten Geistes Eleanors oder ein tatsächlicher Spuk?), verbleibt also eine negative Emotion. Mit diesem Mittel wird vermutlich eine längere Beschäftigung mit dem Erlebten seitens des Rezipienten angestrebt. Somit würde der Film auch länger im Gedächtnis bleiben. „People remember this film forty years later, for God’s sake! It’s extraordinary.” (Johnson 2003, 43. Minute)
Es gibt allerdings zu Beginn des Films noch vor der Einführung von Eleanor eine andere Perspektive, die später allerdings nicht wieder aufgenommen wird. Jene von Dr. Markway, welcher die Geschichte von Hill House schildert. In dieser Montagesequenz werden die düsteren Todesfälle in Hill House beschrieben. Dabei gibt es, wie man im Laufe des Films feststellen wird, Parallelen zwischen den Opfern und Eleanor. Während Eleanor also noch nicht weiß, weshalb das Anwesen einen Sog auf sie ausübt, kann der Zuschauer dies bereits vermuten. Dies bewirkt eine andauernde hohe Spannung und ist „eine Folge der aktiven psychischen Auseinandersetzung des Zuschauers, der in das Informationsgefälle involviert ist, das zwischen seiner eigenen Situation und der der Protagonisten besteht.“ (Wuss 1999, 332) David Bordwell schrieb dazu:
„Unlike Prose fiction, the fictional film seldom confines its narration to what only a single character knows. Most commonly, portions of the syuzhet will be organized around the character’s knowledge and other portions will confine themselves to the knowledge held by another character. Such restrictions and divisions will inevitably create gaps in the fabula.“
(Bordwell, 1985, 58)
Ein einziger Einblick in das Wissen eines zweiten Charakters der Erzählung bewirkt somit eine permanente Aufrechterhaltung der Spannung. Der Zuschauer weiß ein wenig, aber nicht viel mehr als die Protagonistin selbst.
Moderne Erwartungshaltungen gegenüber Horrorfilmen
Eine wichtige Feststellung nach der Rezeption des Filmes war die Tatsache, dass dieser Horrorklassiker nicht wie seine typischen Vertreter der Moderne funktioniert. Frage ich in meinem Bekanntenkreis gleichaltrige Personen, was von einem Film zu erwarten sei, in welchem eine Gruppe von Menschen in einem alten Haus mit übernatürlichem Hintergrund eingesperrt ist, so kommt der Großteil auf die Schlussfolgerung, dass nach und nach Filmcharaktere wegsterben müssten, bis ein Pärchen übrig bleibt.
„Es sind sozusagen feste und geradezu normierte Erwartungen, die hier ins Spiel gebracht werden, und sie gelten nicht nur für einzelne Individuen, sondern für ganze Gruppen von Rezipienten, die einen ähnlichen Sozialisationsprozess durchschritten haben.“
(Wuss 1999, 318)
Ausbildung von Stereotypen
Dass The Haunting mit dieser Erwartungshaltung bricht (nur Eleanor selbst kommt zum Ende des Films durch einen Autounfall ums Leben), fügt folglich eine weitere Qualität der Spannung hinzu. Peter Wuss zufolge sucht der Mensch „sich offenbar stets in eine Lage zu versetzen, die es ihm gestattet, den Lauf der Dinge praktisch zu beeinflussen. Wo das nicht geht, bemüht er sich zumindest um die Möglichkeiten besserer Vorausschau, also um passive Kontrolle.“ (Wuss 1999, 321)
Diese Vorausschau wird dem Rezipienten verwehrt. Die Erwartung dass „jeden Moment doch jemand draufgehen“ müsste, wird in eine Dehnung der Spannung gewandelt. „Die Spannung zelebriert sich selbst Kraft ihrer Gemächlichkeit und sie wird erst spürbar und als Emotion bewusst infolge von zeitlichen Dehnungen der Abläufe […]“ (Wuss 1999, 332) Interessant ist diese Tatsache erst, wenn einem bewusst wird, dass zum Zeitpunkt der Produktion des Films dieser Stereotyp der heutigen Zeit noch gar nicht vorhanden war. Solche Stereotypen werden laut Wuss Story-Schemas genannt. Deren Basisform „schließlich beruht auf Gestaltphänomenen des filmischen Erzählens, die innerhalb eines bestimmten kulturellen Repertoires bereits eine mehrfache Wiederholung erfahren haben, also Stereotypencharakter zeigen, was etwa bei Handlungskonventionen populärer Genres der Fall ist.“ (Wuss 1999, 98) Da nun dieses „Alle-sterben-der-Reihe-nach-Prinzip“ eines Großteils der heutigen Horrorfilme noch nicht gängig war, verhalfen sich die Macher eines interessanten, bereits erwähnten Mittels, um eine ähnliche Erwartungshaltung im Rezipienten aufzubauen. Die beschriebene Einleitung des Films von Dr. Markway, in welcher die mysteriösen Todesfälle der Vergangenheit in Hill House erwähnt und veranschaulicht werden, baut im Zuschauer ein Gerüst des Vorwissens auf, das ein Sterben der Charaktere vorausahnen lässt, welches bis kurz vor Schluss des Filmes nicht in der Handlung umgesetzt wird. Für den heutigen Zuschauer ist dieser Bruch besonders spannend, denn
„erst wenn Bekanntes durch Unbekanntes gebrochen wird, befördert die Erzählung beim Rezipienten ein produktives Verhältnis zu Veränderungen der realen Verhältnisse, unter denen er lebt. Eine mögliche Welt wird konstruiert, die aufgrund ihrer konkreten Ausstattung eine Vielzahl von Erwartungsmomenten aktiviert.“
(Wuss 1999, 318)
1963 / 1999 Ein Vergleich
2018 hat Netflix den Stoff als Serie mit dem Titel „The Haunting of Hill House“ umgesetzt. Sie ist hier allerdings nicht als Untersuchungsgegenstand berücksichtigt, da der Text wie eingangs erwähnt aus dem Jahr 2007 stammt.
Im Jahr 1999 nahm sich der Regisseur Jan de Bont ebenfalls des klassischen Stoffes von Shirley Jackson an und verfilmte es nach modernen Rezeptionsgewohnheiten. Vergleicht man diese beiden Versionen erkennt man, dass The Haunting von 1963 nicht nach moderneren Erzählkonventionen funktioniert. Aber auch schon damals brach der Film mit der Tradition.
David Bordwell stellte fest: „We see the importance of the plot line involving heterosexual romance. It is significant that of one hundred randomly sampled Hollywood films, over sixty ended with a display of the united romantic couple.” (Bordwell 1985, 159)
Nun beinhalten beide Filmversionen des Buches ein lesbisch-romantisches Thema zwischen Eleanor und Thea und brechen schon damit mit der Tradition des „heterosexual romance“. Während 1963 kein glückliches Paar, sondern mehrere Personen das Grauen überleben, zeigt man 1999 nur Dr. Markway und Thea als Überlebende allerdings ohne romantischen Hintergrund. Aber auch hier wurde der Stoff der Sehtradition so weit wie möglich angeglichen: Mann und Frau überstehen das Abenteuer. Ferner gibt es auch einen auf grausame Weise umkommenden Toten mehr als 1963. Man beachte dass die Protagonistin 1963 wie bereits erwähnt durch einen nicht annähernd übernatürlichen Autounfall ums Leben kam. Die visuelle Brutalisierung entstand erst Ende der 60er Jahre durch eine Lockerung der Zensurbestimmungen (vgl. Koebner 2002, 266)
Betrachtet man die schon in Grafik 1 beschriebene Szene und vergleicht sie mit der Version von 1999 (siehe Grafik 2), so werden weitere Unterschiede deutlich. Informationen werden in der neueren Variante z.B. nun primär über die Bildebene an das Publikum geliefert. Sicherlich: es ist auch eine gewaltige Geräuschkulisse vorhanden. Sie hilft aber nicht wirklich dabei, das Gesehene im erwähnten Top-Down Prinzip zu deuten und somit eine neue Qualität des Bildes zu erschaffen. Siehe z.B. Einstellung 2: Wir sehen ein Fester und sich auf dem Glas kristallisierende Feuchtigkeit in einer Form wie sie beim Anhauchen entsteht. Im Ton hören wir dazu ein Atmen. Oder in Einstellung 5: erschrockene Kindergesichter aus Holz. Wir hören dazu Kinderstimmen. Einstellung 13: Eleanor stellt fest: „Oh Gott, es sucht nach mir“ während die beobachtenden Augen, welche sich aus den Fenstergläsern bilden, diese Tatsache bereits verdeutlicht haben etc. Der Ton begleitet also mehr das Gesehene als er es beeinflusst. Der Rezipient sieht tatsächlich alles, was geschieht. Diese Bilderflut erfolgt in einer schnellen Bildfolge, während die Version von Robert Wise mit dem langsamen Wechsel von immer gleichen Bildern arbeitet und so dem Zuschauer die Interpretation und Deutung von Bild und Ton durch Suggestion, bzw. nach dem Top-Down Prinzip überlässt. Auch das oben zitierte Prinzip von Spannung als Emotion infolge von zeitlichen Dehnungen erhält in dieser Sequenz Anwendung. Das Kernelement der Spannung des Erkennens seitens Eleanors, dass nicht Thea ihre Hand gehalten hat, wird 1999 zu einem geradezu unwichtigen Bestandteil der Sequenz. Der Zuschauer sieht, dass Eleanor von etwas Unbekanntem aus dem Bett gerissen wird. Das gesprochene Wort begleitet diese Tatsache. Mehr nicht.
Schlussbemerkung
Keine Frage. Robert Wise inszenierte The Haunting mittels eines außergewöhnlichen Tonkonzepts. Allerdings wurde gezeigt, dass der Ton nicht allein dafür verantwortlich ist, dass der Film eine sehr dichte Spannung aufbaut. Vielmehr muss man sagen, dass das erzählende Bild seine Spannung nur zusammen mit dem Ton aufbauen kann. Ton und Bild gewichten in diesem Konzept gleichermaßen (vgl. Bordwell 1999, 20) und gehen eine narrative Symbiose ein. Denn das Bild allein würde zwar eine Geschichte erzählen, aber nicht vermögen, diese besondere Art von Spannung zu erzeugen. Durch das Top-Down Prinzip entsteht neben dem tatsächlich gesehenen Bild eine zweite sehr persönliche Wahrnehmung des Erlebten. Nicht zu vernachlässigen ist die gezielte Steuerung von Wissen und Nichtwissen des Zuschauers sowie eine Qualität, die erst mit der heutigen Rezeption des Films zutage tritt: Eine „neue“ Wahrnehmung eines Klassikers, indem dieser rückblickend unbeabsichtigt mit der Stereotypenbildung der heutigen Zeit bricht.
Es stimmt also nicht ganz, wenn Nelson Gedding behauptet: „There’s nothing in the movie you see in The Haunting. You don’t see anything. It’s all in your mind. You hear it.” (Gedding 2003, 89. Minute)
Eher trifft es da Robert Wise selbst, wenn er den Ursprung der Wirkung beschreibt: “Durch Andeutung, durch Suggestion!“ (Wise in Beier 1996, 191)
Literatur:
Beier, Lars-Olav (1996) Der Unbestechliche Blick. Robert Wise und seine Filme, Berlin: Dieter Brietz Verlag
Bordwell, David (1985) Narration In The Fiction Film, Wisconsin: The University of Wisconsin Press
Branigan, Edward (1984) Point Of View In The Cinema, Berlin – New York – Amsterdam: Mouton Publishers
Candreia, Dominik (2001) Nativismus Versus Konstruktivismus <http://www.ifi.unizh.ch/groups/ailab/people/lunga/Download/Seminar2001/seminar2 0_04_2001_b.pdf> zugegriffen am 30. 09. 2007 um 11:49 Uhr
Chion, Michel (1982) The Voice In Cinema, New York: Columbia University Press
De Bont, Jan (DVD 2006) Das Geisterschloss, Dream Works Home Entertainment
Gedding, Nelson (DVD 2003) „Bis das Blut gefriert“ Regie: Robert Wise. Transkribierter Audiokommentar. Warner Home Video GmbH
Johnson, Richard (DVD 2003) „Bis das Blut gefriert“ Regie: Robert Wise. Transkribierter Audiokommentar. Warner Home Video GmbH
Koebner, Thomas (Hrsg. 2002) Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart: Reclam Wise, Robert (DVD 2003) „Bis das Blut gefriert“ Regie: Robert Wise. Transkribierter Audiokommentar. Warner Home Video GmbH
Wuss, Peter (1999) Filmanalyse und Psychologie. Strukturen des Films im Wahrnehmungsprozess, Berlin: Edition Sigma Rainer Bohn Verlag