Gut gelogen!

Die Realitätskonstruktion von Castingshows

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Wenn Kinder spielen, wissen sie, dass sie spielen. Egal wie tief sie auch im Spiel versunken sind, werden sie den Unterschied zwischen der Innenwelt und der Außenwelt doch kennen und ein Ende des Spiels als solches begreifen. Dies gilt für das „analoge“ Spiel als auch für die „digitale“ Spielwelt, zu der in erster Linie (aber nicht ausschließlich) die Computergames zählen. Dies ist die Regel … zu der es dann aber auch leider wie selbstverständlich die bedenklichen Ausnahmen gibt.

Wenn ein Kind den Unterschied nicht mehr begreifen kann oder will, ist Handeln erforderlich. In diesem Handeln hinkt die Gesellschaft dem Markt und seinen technischen Entwicklungen hinterher. Politik und Pädagogik re-agieren mehr als dass sie präventiv agieren. Das liegt auch daran, dass die technischen Veränderungen in ihren Auswirkungen auch erst einmal erkannt werden müssen. Doch diese Veränderungen bewegen sich mit sehr großer Geschwindigkeit vorwärts, so dass sie von einem starren gesellschaftlichen Verständnis von Medienkompetenz niemals eingeholt werden können. In den Massenmedien verschwimmt diese Grenze zwischen imaginärer und realer Handlungswelt derweil mehr und mehr. So ist der erste Satz oben durchaus nicht mehr selbstverständlich, denn die Regeln des Spiels setzt vermehrt das Medium und nicht die Fantasie des spielenden Kindes.

In den sogenannten „Sozialen Medien“ werden die Highscores aus Computerspielen ganz einfach durch Likes ersetzt und aus „Gamer“ werden „User“. Auch hier will der umbenannte Highscore immer wieder „geknackt“ werden. Auf Likes müssen mehr Likes folgen. Das Gegenteil kann eine innere Leere entstehen lassen, gar ein Gefühl des Versagens und des Nicht-Beliebtseins. Und wenn die Abbildung der Realität diese Generierung von Likes nicht mehr bewerkstelligen kann, so wird Technik genutzt, die durch Manipulation, Verfremdung und/oder Optimierung der verhassten Realität nun unter die Arme greift.

Zur Zeit sind es die sogenannten „Filter“ – eigentlich müssten sie „Effekte“ heißen – auf Plattformen wie Instagram oder TikTok, die der medialen Darstellung der Nutzer*innen mehr Schönheit, mehr Perfektion verpassen sollen oder sie um virtuelle Elemente erweitern können. Auch die „Deepfakes“, die es ermöglichen, sich selbst fotorealistisch neue Gesichter (z.B. von Promis) in Videos zu verpassen, sind in der Massennutzung angekommen. Und mit Sicherheit wird es schon sehr bald etwas Neues geben, das gerade noch undenkbar schien. Die Technik macht es möglich. Das, was wir medial sehen, ist schon längst als das, was wir uns vorstellen, akzeptiert. Doch die Reflexion darüber fehlt (nicht nur bei Kindern sondern auch bei vielen Erwachsenen).

Selbst – und damit komme ich nun zum Thema – in traditionellen Medien wie dem Fernsehen sind Realität und Fiktion schon lange nicht mehr sauber voneinander zu trennen. Im „Spiel“-Film ist das Spiel und damit die Fiktion / die Fantasie bereits in der Bezeichnung enthalten, und es fällt nicht schwer, solche Geschichten auch im Serienformat als fiktiv zu erkennen, sich auf das Spiel einzulassen und ihren Unterhaltungswert zu genießen. Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe von Formaten jenseits der Nachrichten, die unhinterfragt fast schon ein Abo auf die „Realitätswiedergabe“ gebucht haben.

Eine kurze Randnotiz: Selbst Nachrichten, Reportageformate und Dokumentationen geben zwar – sofern sie seriös sind – ohne Frage reale Ereignisse wieder, jedoch sind diese in ihrer Berichterstattung auch immer perspektivisch zu sehen. Man kann versuchen, eine Berichterstattung so objektiv wie möglich zu gestalten, sie bliebe dennoch – wie alles in unserer Kommunikation – perspektivisch. Sie kann niemals alles abdecken, um einer (egal welcher) Perspektive zu entkommen. Nachrichten berichten das eine, lassen aber etwas anderes, das auch und vielleicht sogar in diesem Zusammenhang geschehen ist, weg. Das ist nicht verwunderlich, denn wir tun tagtäglich in unserer Kommunikation nichts anderes. Wir entscheiden in den Kategorien „wichtig, um es zu erzählen“ oder „unwichtig“. (Massen-)Kommunikation kann sich der Perspektivität nicht entziehen. Ich denke, dass dieser Sachverhalt ebenso zur Medienvermittlung für Kinder und Jugendliche gehört wie das Folgende:

Es gibt im TV (wie oben für die Sozialen Medien erwähnt) schon lange Tendenzen, Realität, um der Unterhaltung willen mit fiktiven Versatzstücken auszustatten, oder sie durch „Skripted Reality“ komplett in ihrer Dramaturgie zu kontrollieren. Gleichzeitig werden die Spuren immer geschickter verwischt, so dass mit einem Mal die gespielte Unterhaltung als vermeintlich wirkliches Abbild realer Vorgänge präsentiert wird.


Mit einem dieser Formate – der Casting Show –  befasst sich das im Folgenden beschriebene medienpädagogische Projekt „Gut gelogen!“

Aus Gründen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes sind dieser Projektdokumentation keine Arbeitsergebnisse oder Fotos beigefügt.

HINTERGRÜNDE UND ZIELE

Das Projekt habe ich im Jahr 2010 mit Schülerinnen und Schülern einer zehnten Klasse der integrierten Sekundarschule in einem Zeitraum von insgesamt zwei Monaten durchgeführt. Es fand pro Woche jeweils an zwei Tagen für eine Doppelstunde statt.

Folgende Ziele sollten dabei erreicht werden:

  • Sensibilisierung der Wahrnehmung von Medienformaten und ihrer Erzählmittel
  • Kompetenzbildung im Bereich der Medienkommunikation
  • Festigung dieser Kompetenz durch die eigene praktische Verfremdung einer realen Situation in eine fiktive Konstruktion mit Hilfe filmgestalterischer Techniken

Das Projekt teilte sich auf in einen vier Einheiten umfassenden vorwiegend theoretischen Teil und in einen finalen praktischen Teil, der Umsetzung einer eigenen Castingsituation.

EINHEIT I:
„DER TON MACHT DIE MUSIK“

Um einen möglichst einfachen Einstieg in das Thema zu ermöglichen, beschäftigten wir uns zunächst mit der Macht der Tonspur und wie sie das gesehene Bild maßgeblich in Wirkung und Aussage beeinflussen kann.

Dazu analysierte die Klasse zunächst eine Szene aus „Mein Name ist Nobody“, einem Film mit Terence Hill aus dem Jahr 1973. Verantwortlich für die Übersetzung und Synchronisation war damals Rainer Brandt, der durch seine Arbeit maßgeblich zu dem Erfolg der Filme mit den Duo Spencer/Hill in Deutschland beigetragen hat. Es handelte sich dabei nicht um eine simple Übersetzung aus der Originalsprache sondern um eine komplette Neubearbeitung der Dialoge inklusive der Erschaffung und Platzierung gänzlich neuer Sätze und Wortwechsel. Dies ging so weit, dass sich Rainer Brandt in den deutschen Fassungen einen Drehbuch-Credit im Vorspann neben den originalen Drehbuchautoren gab. Das Ganze ist nicht unumstritten, doch fest steht, dass diese Filme mit „traditioneller“ Synchro wahrscheinlich nicht den Bekanntheitsgrad hierzulande erlangt hätten, den sie nun schon seit Jahrzehnten genießen.

„Mein Name ist Nobody“ ist je nach Sprachversion (Deutsch / Englisch) ein in der atmosphärischen Wirkung durchaus anderer Film. Während die englischsprachige Variante ein ernstzunehmender Western ist, der einige humorvolle Einlagen hier und da aufzuweisen hat, setzt die deutsche Tonspur auf den uns wohlbekannten „typischen“ Klamauk der Spencer/Hill Filme. Brandt schrieb nicht nur neue Dialoge, er fand darüber hinaus jede noch so kleine Stelle in den Filmen, in welche er den Figuren zusätzliche lustige Worte in den Mund legte. Auch Töne (Rülpser, Grummeln etc.) und ganze Sätze wurden, wo immer es nur ging, zusätzlich eingefügt (z.B. wenn eine Figur nur von hinten zu sehen ist oder diese außerhalb des sichtbaren Bildes steht).

Der kurze Ausschnitt, den ich für die Analyse wählte, findet sich ab der 38. Minute, wenn Nobody auf den Jahrmarkt geht und einem Mann auf Stelzen gegenübersteht, dem er schließlich die „Beine“ wegschießt. Zunächst schaute sich die Klasse die deutschsprachige Umsetzung an und wir besprachen, welchen Eindruck der Ausschnitt auf sie machte. Danach kam die englischsprachige Originalversion dran, die deutlich weniger Dialog enthielt und auch von der Stimmlage des Stelzenmannes anders inszeniert war. Wir besprachen, was die deutsche Synchro alles geändert hatte und die Wirkung, die daraus hervorging. Humorvoll waren beide. Doch die deutsche Version war – in jeder möglichen Situation – voll des genannten Klamauks.

Entscheidend für die Diskussion war aber die Frage nach dem Warum. Zugleich lenkte ich das Gespräch in Richtung des Themas Verantwortung. In der Klasse gab es dazu durchaus verschiedene Positionen. Manche fanden, dass die Tonbearbeitung vollkommen in Ordnung sei, anderen schien die Entfernung zum Original respektlos und fast schon überheblich.

Als weitere Wahrnehmungsübung schauten wir uns „lustige“ Internetvideos an, in denen Menschen und Tieren bizarre Unfälle passieren (Seinerzeit in eigenen TV-Formaten „Homevideos“ genannt und nun vornehmlich im Internet zu finden. Der Charakter dieser Videos hat sich allerdings nicht verändert.) Erstaunliches kommt zutage, wenn man die Tonspur solcher Videos komplett abdreht und man merkt, dass ein Großteil des Humors allein durch die verwendete Musik entsteht. Probieren Sie es mal aus.

Als Abschluss dieser Einheit schossen wir ein Gruppenfoto. Allesamt mit möglichst ausdruckslosen Gesichtern. Dieses wurde an die Wand projiziert während die Schülerinnen und Schüler (jedenfalls die, die mochten) ihre eigene Musik, die sie auf ihren Handys oder MP3-Playern dabei hatten, über die Lautsprecherboxen im Klassenraum dazu abspielten. Je nach der Art und Weise der Musik bekam auch das Bild und die Abgebildeten einen völlig anderen Charakter (aggressiv, cool, heroisch, schläferisch, mysteriös etc.)

EINHEIT II:
„NACHTRÄGLICHE ÄNDERUNGEN IM BILD“

Den meisten Jugendlichen wird der erste Spider-Man Kino-Trailer aus dem Jahr 2001 nicht bekannt sein, da dieser vor Ihrer Geburt auf die Kinoleinwände projiziert wurde. In dieser ersten Ankündigung zu der Kino-Umsetzung des netzschwingenden Helden mit Tobey Maguire in der Hauptrolle wird ein Helikopter mit Kriminellen in einem riesigen Spinnennetz zwischen den New Yorker Twin Towers gefangen. Kurz nach der Veröffentlichung des Teasers kam es aber zu dem Anschlag von 9/11. Der Trailer wurde daraufhin komplett zurückgezogen und die Twin Towers aus dem fertigen Film entfernt. Der Trailer ist aber noch auf YouTube zu sehen.

Hier ging es in der Diskussion mit der Klasse vor allem darum, ob sie es (vor den tragischen Hintergründen) selbst als richtig oder als falsch einschätzten, dass die Produktionsfirma diese erhebliche Änderung auf der visuellen Ebene nach dem Anschlag veranlasste. Unter’m Strich kamen die Schülerinnen und Schüler zu dem Schluss, dass sie es durchaus nachempfinden können, dass die Gebäude aus Rücksicht vor den Gefühlen der Menschen, die unter dem Anschlag gelitten haben, entfernt wurden. Vereinzelt kamen aber auch Argumente, dass man gerade dann diese Gebäude im Film sozusagen als Denkmal hätte erhalten müssen.

Weitere Filmbeispiele gesellten sich hinzu. Es wurden jeweils neue und alte Versionen von Filmen gegenübergestellt: „E.T.“, in welchem Waffen von Polizisten durch Walkie Talkies ersetzt wurden bzw. auch Tonänderungen vorgenommen wurden (Das Wort „Terrorist“ wurde durch „Hippie“ ersetzt) „Star Wars“, mit der in Fankreisen berüchtigten Szene „Han shot first“.

Ich werde hier nicht weiter ins Detail gehen. Im Internet finden sich zu diesen Szenen zahlreiche Beschreibungen und Diskussionen.

Hier diskutierten wir die Frage nach der Nachvollziehbarkeit und ob ein Werk einfach so mal geändert werden darf und sollte. Der Klassenkonsens sah aus wie folgt: Die Entscheidungen zu Änderungen müssen einem nicht gefallen, sind aber nachvollziehbar, solange die Macher*innen über diese Änderungen selbst entscheiden können. Wenn sie es aber selbst nicht mehr könnten, z.B. weil sie bereits verstorben sind, so sahen es die meisten Schülerinnen und Schüler als nicht mehr in Ordnung an. Die Frage stellt sich insbesondere jetzt, da es mehr und mehr möglich wird, verstorbene Schauspieler*innen digital auferstehen zu lassen, Filme dadurch um zusätzliche Szenen zu erweitern oder gar ganz neue Werke mit „Toten“ drehen zu können.

Die Diskussion erweiterte sich (von mir ungewollt aber sehr willkommen) um den Musikbereich, in dem Songs von verstorbenen Künstler*innen verändert oder gesampelt wurden. In diesem Austausch war die Klasse ganz in ihrem Element, denn mit Musik beschäftigen sich fast alle Jugendlichen (… und gedanklich aktiver als mit den visuellen Medien, da sich viele mit den Lebensläufen ihrer Stars auseinandersetzen).

Wir hielten also fest: Änderungen sollten von den Personen gemacht werden, die das Original erschufen. Die Nachwelt sollte andernfalls die Werke, wie sie erschaffen wurden und wie sie sind, respektieren. Das fühlte sich für alle am gerechtesten und besten an, obwohl dies nicht der Weisheit letzter Schluss sein dürfte, denn es gab auch gute Argumente für eine nachträgliche Veränderung insbesondere beim Thema Musik, weil sie so den Hörgewohnheiten einer neuen Generation angepasst werden kann … Doch die weitere Verfolgung dieser Gedankenkette hätte das Projekt in eine gänzlich andere Richtung geführt. 

EINHEIT III:
DER SPRUNG IN DIE REALITÄT
– ODER DOCH NICHT?

Nachdem nun die Klasse erfahren hat, wie sehr alleine die Tonspur die Wirkung eines Bildes beeinflusst und eine Geschichte durch die Bearbeitung, den Austausch oder das Streichen von Bildern stark verändert werden kann, bestand der nächste Schritt darin, in Formate zu wechseln, denen man im Allgemeinen eine „Realitätswiedergabe“ zuspricht.

Ein großartiger Unterrichtsgegenstand ist hierfür der Film „Kubrick, Nixon und der Mann im Mond“ aus dem Jahr 2002. Es handelt sich dabei um eine gänzlich fiktionale Geschichte, die sich äußerst geschickt als Dokumentation verkleidet.

Ich möchte hier auf den entsprechenden Wikipedia Artikel verweisen, der einen guten Überblick über den Film und seine Methoden der Manipulation gibt.

Dafür wurden reale Interviews von Zeitzeugen und -zeuginnen sowie inszenierte Interviews mit Schauspieler*innen mit der Stimme eines Erzählers kombiniert, um zu „belegen“, dass die Mondlandung vom Regisseur Stanley Kubrick für die US-Regierung inszeniert worden wäre. Die Schülerinnen und Schüler wussten zunächst nicht, dass sie da eine sogenannte „Mockumentary“ sehen.  

Im Anschluss wurden sie über den wahren Charakter des Filmes aufgeklärt, und wir analysierten diverse Ausschnitte, um herauszufinden wie er es fertig brachte, uns diesen Bären aufzubinden. Dies führte zu der folgenden Fragestellung:

„Können wir immer erkennen, wenn Medien manipuliert wurden?“

Und leider lautet die Antwort: „Nein. Nicht immer.“

Wie eingangs erwähnt holen die technischen Möglichkeiten der Bild-Manipulation unsere Fähigkeiten der Wahrnehmung ein, so dass es schon bald eine Expertise in dem Bereich benötigen wird, um gut gemachte Fakes (oder Fakenews) klar als solche zu erkennen. Denn wenn bald ganze Aufnahmen von Ereignissen und Personen, die so nie stattgefunden haben, quasi fast in Heimarbeit erstellt werden können, wird selbst das trainierte Auge verloren sein. Daher kann es in einem solchen medienpädagogischen Projekt nur um die Sensibilisierung der Jugendlichen für Manipulationsmöglichkeiten gehen und das Verständnis dafür, dass Unterhaltung (das Spiel) auch oft als Information verkleidet unsere Erkenntnisfähigkeit täuscht. Und genau damit beschäftigten wir uns konkret in der nächsten Einheit.

EINHEIT IV:
DIE CASTINGSHOW

Castingshows bedienen die Sehnsüchte vor allem der Kinder und Jugendlichen. Einmal ein Star werden … unter Tausenden entdeckt und berühmt werden … sich dafür so richtig ins Zeug legen und der Welt dann im Fernsehen zeigen, was man kann.

Leider konzentrieren sich einige dieser Formate nicht nur auf die Talente der jungen Kandidaten und Kandidatinnen sondern suhlen sich in ihren Schwächen. Bei den Zuschauer*innen löst dies einerseits eine stille Schadenfreude aus und bietet ihnen damit auch die nötige Dramatik, um dranzubleiben (Welche Katastrophe kommt als nächstes?)

Ich diskutierte mit der Klasse darüber, was sie an solchen Shows fasziniert und wie sie die schwächeren Kandidaten und Kandidatinnen in den Castings wahrnehmen. Meist wird die Zurschaustellung von Personen mit deutlichen Schwächen als gerecht empfunden, denn „wenn man es nicht drauf hat, sollte man sich nicht bewerben. Selbst Schuld!“ 

… Wirklich?

Die von mir ausgesuchte Casting-Szene ist nicht mehr in Mediatheken oder auf Videoportalen des Internets verfügbar. Falls Sie eine ähnliche Analyse mit Ihrer Klasse durchführen wollen, so suchen Sie sich einen Ausschnitt, der einige der hier im Folgenden erwähnten Merkmale aufweist.

Ich wählte für das Vorhaben eine Castingsituation aus „Deutschland sucht den Superstar“, in welcher ein jugendlicher Kandidat als Vollversager rüberkommt. Das Schauen brachte der Klasse die erwartete Belustigung. Auf meine Frage „War das jetzt eine reale Situation? Hat sie so stattgefunden?“ gab es eine einheitliche bejahende Antwort. Zwar haben die Schülerinnen und Schüler eingeräumt, dass durch den Einsatz von Soundeffekten und Grafiken über dem Bild das Ganze etwas lächerlicher gemacht wurde, als es vielleicht wirklich war, aber dass dieser Typ dort ein Versager war, schien absolut klar zu sein.

Nun begann die Spurensuche der Mediendetektive. Wir schauten uns immer wieder zusammen und akribisch den Ausschnitt an – manche Stellen auch sehr genau mit Hilfe des Mediaplayers frameweise oder in Zeitlupe, um die Schnittstellen und die Bildanschlüsse zu überprüfen. Die Klasse sollte schauen, ob sie die in den vergangenen Unterrichtseinheiten erlernten Methoden zur Manipulation auch in diesem Video finden konnten. Und tatsächlich trugen sie einiges zusammen und entdeckten Neues:

  • Bilder wurden mit Grafiken verfremdet
  • alberne Töne und Musik wurden eingesetzt, um die Situation lächerlicher wirken zu lassen
  • Anschlüsse (Blicke, Körperhaltung und Handbewegungen) bei Schnitten stimmten oft nicht überein
  • Exakt dieselben Blicke (vom Kandidaten aber auch von den Jurymitgliedern)  wurden tatsächlich mehrfach verwendet
  • Ton und Bild sind oftmals getrennt (Sprüche liegen im sogenannten Off). Das heißt, dass die Kamera auf diejenige Person gerichtet ist, die selbst nicht spricht
  • Bei krassen Beleidigungen sieht man nur die sprechende Person aus der Jury und nicht gemeinsam mit dem Kandidaten im Bild
  • Es wirkt, als ob dem Kandidaten die „Sprache“ genommen wurde. Oft steht er nur so da und lässt alles über sich ergehen.
  • Auf der anderen Seite wurden Satzfetzen (Stottern, verlegenes Lachen) des Kandidaten gedoppelt und mit unterschiedlichen „Sillysounds“ unterlegt.

Schließlich kam die Klasse zu der Erkenntnis, dass dieser Junge wohl lediglich nicht gut singen konnte. Dass aber die Herabwürdigung durch die Jury danach und sein trottelhaftes Nichtreagieren auf Beleidigungen doch nicht so stattgefunden haben konnte, wie es zunächst schien, wurde nun offensichtlich. Hier wurde eine gänzlich neue Situation erschaffen. Wie die Originalsituation aussah, werden wir nie erfahren. Um aber diese Fallhöhe nachvollziehbar zu machen, kamen wir zum letzten praktischen Abschnitt des Projektes.

EINHEIT V:
PRAKTISCHE UMSETZUNG

Die Aufgabe für die Klasse lag hier in der eigenen Entwicklung und Umsetzung einer Castingsituation. Diese sollte zunächst so gefilmt und geschnitten werden, wie sie wirklich war. Darüber hinaus sollte aber eine zweite Version erschaffen werden, in der die Klasse alles manipulieren durfte, was zu manipulieren war, um die Situation so weit wie möglich vom Original zu entfernen.

Es ist äußerst wichtig, deutlich mit der Klasse zu kommunizieren, dass das Projektergebnis auf keinen Fall ins Internet gestellt werden soll. Denn sonst würde sich niemand für die Rolle des Prüflings finden. Ziel ist es ja im Endeffekt, diese Figur durch Manipulation von Bild und Ton als Versager darzustellen. Wenn Sie sich nicht absolut sicher sein können, dass sich alle daran halten werden, so geben Sie das Videomaterial und das Projektergebnis nicht aus der Hand (bzw. lassen es nach der Aufnahme  und Übertragung auf den Computer auch von den Handys löschen) und benutzen es ausschließlich im Unterricht. Achten Sie auch darauf, sich die Einverständniserklärung der Eltern für die Videoaufnahmen einzuholen.

Die Schülerinnen und Schüler entschieden sich hier aber dafür, kein Gesangscasting zu machen. Einfacher war es in der Umsetzung, eine mündliche Prüfungssituation der Schule zu inszenieren. Vier Schülerinnen und Schüler spielten die Jury und ein Schüler übernahm die Rolle des Prüflings.

Wir analysierten noch einmal den Ausschnitt der Castingshow aus der letzten Einheit und legten fest, dass wir für das Vorhaben vier verschiedene Kameraeinstellungen benötigen würden. Je zwei Kameras, die auf die Jury gerichtet sind (eine totale Einstellung, in der alle vier Jurymitglieder zu sehen sind und eine nahe Einstellung, in der nur das jeweils aktive Jurymitglied gefilmt wird) und nochmals zwei Kameras, die auf den Kandidaten gerichtet sind (auch hier einmal in der Totalen und dann nah auf das Gesicht).

Es waren in jede Richtung zwei Einstellungsgrößen vonnöten, da hierdurch später ganz einfach ganze Satzteile weggeschnitten werden konnten, indem im Schnitt auf die jeweils andere Einstellung gewechselt wurde. Ein „Springen“ im Bild wurde dadurch gut kaschiert. So war es möglich zu kürzen, ohne auf den Gegenschuss schneiden zu müssen:

Wir haben in diesem Projekt mit geliehener und schuleigener Kameratechnik gearbeitet. Doch mittlerweile sind die Kameras ja in brauchbarer Qualität in jeder Hosentasche verfügbar. Minimal würden Sie zur Umsetzung also lediglich vier (möglichst baugleiche) Handys benötigen, die naturgemäß unter den Schüler*innen vorhanden sein dürften. Die Handys können dann gleich von ihren Besitzer*innen bedient werden. Es lohnt sich hier mit Handystativen zu arbeiten. Falls diese nicht verfügbar sein sollten, können auch Bücher als Stütze genommen werden. Je nach technischen Möglichkeiten (Zoommöglichkeiten der Handykameras) platzieren Sie die Kameraleute so, dass die gewünschten Bildausschnitte gefunden werden, ohne dass sich die Handys und Kameraleute gegenseitig ins Bild kommen. Überprüfen Sie unbedingt die Einstellungen der Handys in welchem Format und mit welcher Bildrate sie aufnehmen. Hier sollten die Einstellungen übereinstimmen, damit die verschiedenen Videospuren nachher im Schnitt zusammenpassen.

Kamera A
Kamera B
Kamera C
Kamera D

Wir arbeiteten vorab den Dialog bereits aus, den die Darsteller*innen dann einübten. Der Ablauf der Szene war wie folgt:

Der Kandidat kommt herein, wird freundlich begrüßt, ein paar persönliche Fragen werden gestellt und beantwortet. Schließlich wird dem Kandidaten die Aufgabe gestellt (in diesem Fall war es eine Matheaufgabe), die der Kandidat problemlos lösen kann. Die Jury möchte noch einen Blick auf das Zeugnis des Kandidaten werfen. Er händigt es aus, sie werfen einen bestätigenden Blick darauf und verabschieden sich wohlwollend von ihm. Er verlässt den Raum.

Alles wurde mit allen vier Kameras gleichzeitig gefilmt. Dies brauchte ein paar Anläufe, bis es reibungslos lief und die Szene „im Kasten“ war. Danach aber wurde zusätzliches Material allein mit der Jury gefilmt. Dies bestand aus verächtlichen Blicken und herabwürdigenden Kommentaren in Richtung des nun abwesenden Kandidaten. Teilweise wurden ganze Abschnitte und Kommentare neu erdacht. Für diesen „Nachdreh“ reichte eine Kamera aus, um die Ideen festzuhalten. Die Planung hierfür fand ebenfalls bereits vor dem Dreh statt.

Gemeinsam wurden schließlich zwei Versionen mit einem Schnittprogramm am Smartboard erstellt. Das Original war einfach zu schneiden: Schuss, Gegenschuss von Jury auf den Kandidaten im Wechsel des Dialogs, so wie es eben stattfand.

Für die Fälschung allerdings wurden noch zusätzliche alberne und dramatische Soundeffekte gesucht, die wir unter das Bild legen konnten. Die neuen Kommentare und Blicke wurden eingefügt, dem Kandidaten wurde die Sprache „geraubt“, und manchmal fügten wir Sätze von ihm ein, die in Kombination zu den neuen Kommentaren nun überhaupt nicht mehr nachzuvollziehen waren und ihn ziemlich blöd dastehen ließen. Das Ergebnis war eine völlig verzerrte Version des Originals:

Die Jury wartet und wartet. Der Kandidat kommt nicht. Die Jurymitglieder gähnen. Schließlich kommt der Kandidat herein. Ihm werden ganz andere Fragen gestellt, auf die er gar nicht oder seltsam antwortet oder als Reaktion nur „dumm“ in die Gegend blickt. Die Matheaufgabe findet gar nicht statt. Stattdessen fragt ihn die Jury, ob er eine Entschuldigung für seine Verspätung dabei habe. Diese holt er aus seiner Tasche (Das Papier ist eigentlich das Zeugnis aus der Originalszene) und übergibt sie der Jury. Diese macht sich darüber lustig, dass er das wohl selbst gekrakelt hätte und wirft ihn aus den Raum.

Die Aufnahmen des Kandidaten wurden in dieser Schnittversion mehr und mehr zu bloßem Material, aus dem sich die Klasse nach Lust und Laune und mit großer Schaffensfreude bedienen konnte. Das Ergebnis hatte mit der ursprünglichen „wirklich“ stattgefundenen Situation rein gar nichts mehr zu tun. Die praktische Auseinandersetzung hat den Schülerinnen und Schülern abschließend direkt erfahrbar gemacht, wie einfach und verführerisch es sein kann, zum Zwecke der Unterhaltung „echte“ Situationen mit den vorhandenen Möglichkeiten zu verfremden, Realität in Fiktion zu verwandeln und dabei aber für das Fernsehpublikum weiter „real“ wirken zu lassen. 

Damit war die Transferleistung auf die Medien, die sie tagtäglich konsumieren, geschafft.