Fußnote: Bohlen, RTL und die Schwierigkeit der Veränderung
»Und was soll ich jetzt tun? Vor die Fernsehkameras treten und zehn millionen Menschen erzählen, dass sie nett zueinander sein sollen?
Sich mies zu benehmen und all die anderen Mitmenschen wie Dreck zu behandeln ist jedes New Yorkers gottgegebenes Recht!«
(Der Bürgermeister von New York [Filmfigur] in „Ghostbusters 2“, USA 1989, Columbia Pictures)
Vor einigen Tagen ging die Nachricht durch die Presse, dass sich der Fernsehsender RTL nach fast 20 Jahren der Zusammenarbeit von seinem Quotengaranten Dieter Bohlen getrennt hat (Quelle). In dieser beträchtlichen Zeitspanne war Bohlen als Chefjuror der Formate „Deutschland sucht den Superstar“ und „Das Supertalent“ vor allem für seine „gnadenlose Ehrlichkeit“ (als Umschreibung für „gnadenlose Demütigung der Kandidat*innen“) bekannt. Gut. Sei es drum. Jede Zeit läuft irgendwann ab. Doch warum gerade jetzt? Was ist gesellschaftlich am Laufen, das dieses Ereignis getriggert haben könnte? Warum ist dies nicht schon früher passiert? Und wird sich dadurch etwas verändern?
Ich persönlich hielt und halte herzlich wenig von der Methode, wie RTL in diesen Formaten mit Hilfe von Bohlen auf Quotenfang ging. Mit einer verbalen Diarrhoe aus Beleidigungen, Erniedrigung und Zurschaustellung bediente sich die unheilige Allianz aus Sender, Redaktion und ausführenden Kräften der niedersten und einfachsten Mittel zur Generierung und Steigerung von Quote.
Ein Skandal, ein Konflikt, lässt sich immer leichter erzählen als sein Gegenteil. Es ist schon fast eine banale Feststellung, dass die Gesellschaft vorrangig den Schreihälsen ihre Aufmerksamkeit widmet und eine Faszination für Katastrophen hat. Der Skandal ist die einfachste Form medialer Information. Und wenn gesellschaftliche Vorkommnisse ihn nicht hervorbringen, so erschafft man ihn leichterhand.
Bohlen hat sich in RTLs Auftrag durch diese Art der Fernsehunterhaltung zu einem Markenkern der genannten Sendungen gemacht. Doch der respektlose Umgang bleibt leider nicht brav in der Welt der Massenmedien. Die Geister verlassen das System und infizieren die Art und Weise unserer Kommunikation außerhalb ihrer eigenen Blase. Stichwort „Interpenetration“ (vgl. Luhmann 1987, 289 ff.) Und diese Geister wird man so schnell nicht mehr los.
Zwei aktuelle gesellschaftliche Hintergründe scheinen mir für die unerwartete Trennung zwischen Sender und Juror überlegenswert. Diese Gedanken mögen mit den tatsächlichen internen Entscheidungsvorgängen beim Sender bzw. bei Bohlen wenig bis gar nichts zu tun haben (die Spekulation darüber überlasse ich der Regenbogenpresse), doch ein erweiterter Blick auf die Wechselwirkung von Massenmedien und Gesellschaftsystemen scheint mir hier angebracht.
Der erste Gedanke würde von einer gewissen Selbstverpflichtung und einem Verantwortungsgefühl des Senders gegenüber seinem Publikum zeugen und zeigen, dass die Entscheidung nicht im System der Massenmedien sondern eher im System der Erziehung getroffen wurde, und zwar aufgrund moralisch gesteuerter Beobachtungen von politischen Auswirkungen der Medien.
Erziehung wird in der Gesellschaft erforderlich, wenn Sozialisation alleine nicht mehr ausreicht, ein adäquates Verhaltensvermögen zu sichern.
(Baraldi, Corsi, Esposito 1997, 51)
[…] Moral ist nicht ein Normtypus besonderer Art […] sondern eine Codierung, die auf dem Unterschied von Achtung und Mißachtung aufbaut und die entsprechenden Praktiken reguliert.
(Luhmann 2018, 245)
In jüngster Vergangenheit wurde die Medienwelt Beobachter von Ereignissen, die im internationalen sowie im nationalen Raum eine gesellschaftliche Reichweite hatten, die eine moralische Reflexion der Massenmedien nahe legen würde. Beide Vorkommnisse haben mit Medienprominenten zu tun, die mit ihren Handlungen und Aussagen politisch-gesellschaftliche Sprengladung unter den Menschen verteilten – fernab von der gewohnten Unterhaltung, die sie sonst lieferten.
Zum einen hätten wir den Sturm auf das Capitol in den USA, als der ehemalige TV-Entertainer – Tschuldigung – ehemalige Präsident Trump nach vier Jahren, in denen er die Gesellschaft nicht nur in den USA durch äußerst effektives Geschimpfe spaltete, es vermutlich zumindest billigend in Kauf nahm, dass seine Anhängerschaft ihm durch die Anwendung von Gewalt die Macht hätte sichern können.
In Deutschland haben wir es inmitten der Corona-Krise ebenfalls mit Fernsehprominenz zu tun, die mit ihrer gewonnenen Reichweite der Massenmedien nun auf anderen Kanälen die Wut der Menschen mit Hilfe von Feindbildern zunächst entfachen und dann weiter schüren. Dazu bauen sie auf vorhandenem Frust auf, um eine eigentlich sehr heterogene Gruppe von Menschen im Hass auf die „Schuldigen“ zu vereinen. Einer von diesen Promis saß zuvor neben Bohlen in der Jury von „Deutschland sucht den Superstar“ (Quelle).
Es mag jetzt hier der Eindruck entstehen, dass RTL als Medienunternehmen aus solchen Vorkommnissen gelernt haben könnte und keine Mittäterschaft riskieren möchte, falls ihre eigenen Stars (bzw. ihr eigenes Konzept des Skandalvoyerismus) zu schädlichen Handlungen außerhalb ihrer Medienblase führen könnten. Nicht dass Bohlen wie die genannten Prominenten aktiv solch Handlungen durchführen würde, jedoch hat RTL mit ihm den herablassenden gesellschaftlichen Ton wenn auch nicht erfunden, so aber äußerst gut gepflegt. Die mediale Erniedrigung von Menschen – und darin sind die Wirkungen von Bohlen und Trump sehr ähnlich – wird von seiner Anhängerschaft sogar als „vorbildhaft“ gesehen (Quelle)
Das Fernsehen hat eine Art faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne eines Großteils der Menschen.
(Bordieu 1998, 23)
Es scheint mir, dass wir Menschen es allzugern annehmen, wenn man uns die Möglichkeit gibt, auf unsere Mitmenschen heimlich verächtlich hinabzublicken. Das Fernsehen kommt dafür als passives Instrument nahezu wie gerufen. Denn dort handeln wir nicht selbst sondern schauen (nur) zu, wie Stellvertreter mit gewisser Machtausstrahlung ihre hilflosen Gegenüber mit verachtenden Sprüchen zu unserer Unterhaltung zur Schnecke machen. Im alten Rom hat dies der Kaiser für das Volk übernommen, wenn er unter wildem Gejohle der Massen seinen Daumen nach unten drehte und damit das Schicksal eines Gladiators besiegelte.
Kann es also sein, um den Gedanken wieder aufzugreifen, dass RTL seine Verantwortung für die gesellschaftlichen Vorgänge erkannte und sich daher von diesem Erfolgsrezept trennen mag? Ich bin ich da leider nicht allzu zuversichtlich, was eine grundsätzliche Wandlung des Senders betrifft.
Eine andere Erklärung sei nämlich mit dem lebenserhaltendem Bedürfnis der Massenmedien nach Information gegeben (vgl. Luhmann 2009, 27ff.) Die Information in der Definition von Niklas Luhmann wäre alles, was mit der Erwartung des Systems bricht. Information liegt demnach nicht bereit sondern wird durch jedes System durch seine Beobachtung selbst erzeugt.
Das Konzept der Beleidigung von Showteilnehmer*innen schien dies über viele viele Jahre für jene Formate, die Bohlen vertrat, erfolgreich erfüllt zu haben. Was hieße nun die Trennung in diesem Kontext? Dass in unserer Kommunikation die Beleidigung nichts Neues mehr darstellen würde, keine Überraschung mehr wäre und somit keine Information als Anschluss für weitere Information enthielte. In anderen Worten: Die Gesellschaft hat sich an den Ton gewöhnt und pflegt ihn mittlerweile selbst.
Man halte sich nur einige Minuten in den sogenannten sozialen Medien auf und klicke sich insbesondere durch die öffentlichen „Diskussionen“ zu politischen Themen dort. Der Fülle und Varianz an Hasskommentaren und Beleidigungen bis hin zu Morddrohungen kann nichtmal mehr ein Dieter Bohlen mit noch so kreativ geskripteten Sprüchen das Wasser reichen. Information hat sich in Nicht-Information gewandelt.
Und so müssen die Sender neue Quellen finden, wenn alte versiegen. Wie die im Fall von RTL ausschauen wird, vermag ich nicht vorherzusagen. Ich ahne da nichts Gutes. Bei aller persönlichen Erleichterung, dass Bohlen als Inbegriff der Herablassung nun nicht mehr diese Formate (re-) präsentieren wird, kann ich nicht mit dem Finger auf ihn zeigen und hoffen, dass sich mit seinem Ausscheiden etwas ändern würde, denn:
Wenn man […] Soziologie betreibt, erfährt man, daß Männer und Frauen gewiß Verantwortung haben, daß sie in dem, was sie tun können und was nicht, aber weitestgehend definiert sind durch die Struktur, in der sie stecken, und durch die Position, die sie in dieser Struktur innehaben.
(Bordieu 1998, 77)
Literatur:
Baraldi, Claudio; Corsi Giancarlo; Esposito, Elena (1997) GLU Glossar zu Niklar Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag
Bordieu, Pierre (1998) Über das Fernsehen, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag
Luhmann, Niklas (1987) Soziale Systeme, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag
Luhmann, Niklas (2009) Die Ralität der Massenmedien, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften
Luhmann, Niklas (2018) Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag