Lernen durch Popkultur


»Fiction is the lie that tells the truth.
We all have an obligation to daydream.
We have an obligation to imagine.«

– Neil Gaiman, Art matters, London 2018,
Headline Publishing, Seite 30

Medienkonsum wird in der Pädagogik gemeinhin als eine passive Tätigkeit gewertet. Insbesondere, wenn es dabei um das Schauen von Filmen geht. „Berieseln lassen“, „in die Röhre schauen“ und „glotzen“ sind dafür altbackene und allesamt negativ behaftete Synonyme. Heute stehen eher „Bingewatchen“, „Netflix’n Chill“ (ohne die sexuelle Bedeutungsebene) oder auch das „Doomswipen“ für die Aufnahme von visuell-erzählerischen Inhalten.

Die mit dem Medienkonsum assoziierte Passivität der schauenden Personen zieht sich dabei durch all diese Begrifflichkeiten. Dort das Medium, hier der Mensch, der nichts weiter tut, als sich durch das Schauen in eine Aktivitätsstarre zu begeben. Interessanterweise gibt es keine mir bekannten ähnlich behafteten Synonyme für „ins Kino gehen“, das viel mehr als positiv, aktives und soziales Ereignis wahrgenommen wird. Vielleicht kommt dies durch die Verwandtschaft des Kinos mit dem Theater und dem damit verbundenen aktiven Aufsuchen eines Ortes, der fern des eigenen Heims ist.

Unter den medialen Angeboten selbst finden wir ebenfalls eine Unterteilung in wertvolle und eher nutzlose Inhalte. Zu letzterem zählt im Allgemeinen die Unterhaltung. Unterhaltende Formate wie Spielfilme und Serien (allen voran Genreerzählungen) werden mit Realitätsflucht oder der Vertreibung von Langeweile in Verbindung gebracht. Beides steht für die Vermeidung von aktivem Handeln im „wahren Leben“. Doch bewirken sie in uns mehr Aktivität als wir vermuten.

Es ist einfach, Unterhaltung als wenig wertvoll abzustempeln. Es ist einfach, sich dieser Sichtweise vor allem in der Pädagogik anzuschließen. Es ist einfach, Unterhaltung geringzuschätzen, vor allem, wenn dies die Mehrheitsmeinung darstellt.

Kinder mit Filmen, Serien und Videogames alleine lassen? Geht nicht. Und das stimmt. Aber nicht so wie es den Anschein hat.

Der pädagogische Wert von Fiktion

Ich möchte hier den Begriff des Sozialen Lernens heranziehen, der nach Definition so gar nicht mit dem Medienkonsum harmonisieren mag. Während beim Sozialen Lernen in der Gemeinschaft – eben durch die soziale Interaktion – gelernt wird, sitzen Kinder doch ohne diese (irgendeine?) Interaktion vor ihren Filmen, Serien, Comics und Computerspielen.

Der Schlüssel zu einer diplomatischen Annäherung von Sozialem Lernen und Medienunterhaltung liegt im Erkennen der eigenen Rolle während des „Konsums“ und dem Ursprung von Geschichten. Beginnen wir mit dem Ursprung.

Erzählungen (auch: unterhaltende Erzählungen) entstehen nicht einfach so. Sie entstehen aus der Gesellschaft. Egal wie fern sie dieser erscheinen mögen (z.B. bei Fantasy oder Science-Fiction) – diese Geschichten sind von der Gesellschaft nicht zu entkoppeln. Denn was passiert dort? Figuren handeln. Figuren stehen vor Problemen. Figuren lösen diese. Mal besser, mal schlechter, mal gar nicht. Wir beobachten folglich soziale Interaktion. Jede fiktive Geschichte setzt sich mit einem Sachverhalt aus unserer Wirklichkeit auseinander. Und Geschichten gibt es nur, weil es die Wirklichkeit gibt. Ihre Existenz kann dabei ganz unterschiedliche Gründe haben. Doch niemals können sie sich unserer Gesellschaft entziehen. Sie kommen aus ihr und wirken gleichzeitig zurück. Henne und Ei. Ei und Henne.

Das Spiel

Welche Rolle nehmen dabei die Zuschauenden jenseits des Zuschauens ein? Sie ist im Spiel zu finden. In dem So-tun-als-ob. Denn selbst wir Erwachsenen spielen noch mit jedem Film, den wir schauen. Wollen wir uns nicht eingestehen, ist aber so. Jede Handlung ist ein Abgleich mit der eigenen Position in der Welt. Wir schauen zu wie andere handeln und gleichen ab, wie wir in solch einer Situation handeln würden. Dies ist ein sehr aktiver (wenn auch nicht bewusster) Vorgang.

Schonmal einen irre schlechten Horrorfilm gesehen und sich darüber aufgeregt, wie selten dämlich die Figuren handeln, bevor (bzw. damit) sie der Tod ereilt? Genau da sind wir. Genau da gleichen wir Handlungsmöglichkeiten ab und finden uns selbst als Individuen. Unser Urteil ist Bestätigung unserer eigenen Position („Ich hätte das anders gemacht!“ oder „Niemand würde das so tun!“). Umgekehrt stellen Beobachtungen von fiktionalen Handlungen Möglichkeiten zur Erweiterung dieses Handlungsrepertoires dar (Lernen). Und vor diesem unbewussten Hintergrund verfolgen wir spielerisch Gespräche, Tragödien, Kämpfe und Situationen, die uns zum Lachen oder Weinen bringen. Die Beobachtung von Handlungen (und eben auch unterhaltenden Handlungen) sind immer eine aktive Auseinandersetzung mit der Welt und mit dem Selbst in dieser Welt. Dies ist die eigene Rolle. Durch Empathie und Antizipation werden wir durch das Spiel Teil eines möglichen und imaginären sozialen Gefüges. Wir nehmen Teil an der Diegese.

Durch Geschichten lernen wir. Und das ohne die Gefahr, selbst falsch oder richtig zu handeln und entsprechende Konsequenzen zu erleiden. Dies tun die Figuren für uns. Und wir leisten darüber hinaus noch einen Lerntransfer. Nämlich den Transfer auf ähnliche Situationen in unserem eigenen Leben. Dazu ein sehr persönliches Beispiel, das absolut keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt, aber durch seine Anschaulichkeit und seine Stellung in der Popkultur zu vermitteln vermag, worauf ich hinaus will: Star Wars.

Skywalkers Ausbildung

Ich habe „Episode IX – Der Aufstieg Skywalkers“ nicht mehr gesehen. Nach der negativen Erfahrung mit Episode VIII, dem zweiten Teil der dritten Trilogie, habe ich entscheiden, dass dies nicht mehr das Universum darstellt, das ich seit meiner Kindheit so faszinierend fand. Das ist in Ordnung. Genauso wie es in Ordnung ist, dass viele Menschen den Abschluss der sogenannten Skywalker-Saga großartig finden. Ich selbst habe in dieser Fortsetzung keinen Zugang mehr zu den einst liebgewonnenen Figuren der Saga gefunden. Nichtsdestotrotz gibt es durchaus interessante Konstruktionen in der Erzählung, von denen ich hier eine heranziehen möchte.

In „Episode VIII – Die letzten Jedi“ baut die Geschichte unter anderem auf einem inneren Konflikt Luke Skywalkers auf, auf der Zerrissenheit des Charakters durch eine fatale Fehlhandlung in seiner Vergangenheit: Er hat die dunkle Seite der Macht in seinem Schüler Ben Solo geweckt, weil er einer eigenen Vision der Zukunft vertraute. Dort sah er, dass Ben sich dem Bösen zuwenden würde. In einem schwachen Moment war Luke schließlich kurz davor, Ben zu ermorden. Dies wird zum Schlüsselmoment in Bens Leben, der sich daraufhin erst der dunklen Seite der Macht zuwendet und zu Kylo Ren wird.

Wer die Originaltrilogie kennt, hat sich in diesem Moment daran erinnert, dass ein wesentlicher Bestandteil von Lukes Ausbildung zum Jedi in „Episode IV – Das Imperium schlägt zurück“ darin bestand, dass Yoda ihm lehrte seinen eigenen Visionen nicht zu trauen. Sie zeigen nur eine mögliche Zukunft. Luke entschied sich damals entgegen Yodas Rat seiner Vision zu vertrauen und den in Not geratenen Freunden Han und Leia zu Hilfe zu eilen. Wir können nicht wissen, wie die Trilogie damals ausgegangen wäre, hätte Luke auf Yoda gehört. So ging die Geschichte aber gut aus. Luke hatte richtig entschieden. Doch auch Yoda hatte recht. Luke war Vader (noch) nicht gewachsen.

Innerhalb der Diegese des Star Wars Universums bleibt Luke seinem Charakter demnach konsequent wenn auch ohne Weiterentwicklung, wenn er Jahrzehnte später wieder einmal einer Vision vertraut. Doch dieses Mal wird seine Handlung fatale Konsequenten haben, denn er entscheidet sich nicht für Freundschaft und Hilfe sondern für den Tod seines Schülers und erschafft dadurch erst das Böse.

Was hat das nun mit Lernen und Transfer zu tun? Nun, wir lernen mit Luke zusammen, dass die eigenen Gedanken und unser Blick auf die Welt trügerisch sein können. Zum Beispiel wenn wir glauben zu wissen was andere denken, wie sie handeln würden und über sie urteilen. Und dass unsere Entscheidungen Konsequenzen haben werden, die wir wohlmöglich nicht abschätzen können. Im Gesamtbild mit den Ereignissen in der letzten Trilogie der Saga wird dies für die heutigen Zuschauer:innen noch unterstrichen. Dieses Lernen und der Transfer auf das eigene Leben sind in diesem Spiel keine bewussten Aktionen. Schon gar nicht bei Kindern. Sie erleben durch Geschichten schlichtweg wie die Welt noch sein könnte. Sie tun eben so als ob.

Insofern sind wir also durchaus aktiv, wenn wir Unterhaltung konsumieren. Wir interagieren zwar nicht mit anderen Menschen aber mit fiktiven Verhältnissen und Figuren. Fiktion ermöglicht uns einen breiteren Blick auf die Welt. Dadurch finden wir uns selbst, bestätigen, justieren und erweitern uns in unseren Handlungsoptionen. Fiktion ermöglicht Offenheit. Popkulturelle Filme, Serien, Romane, Comics und Videospiele erweitern das Denken mit zusätzlichem Kontingenzbewusstsein (Alles kann so aber auch anders sein) und zusätzlichen Handlungsprojektionen im Kontext einer anderen, fiktiven Welt.

Kinder und Medien

Heißt das jetzt, dass Kinder vor dem Bildschirm abgesetzt werden dürfen? Soll dieser Text etwa einen Freifahrtschein für ein ungezügeltes Versinken in der Medienwelt darstellen? Können Medien gar einen Ersatz für Soziales Lernen in der Gemeinschaft darstellen? Auf gar keinen Fall. Das fiktive Spiel ist eine Erweiterung der eigenen Erfahrungen. Es ist zu sehen wie ein Add-On auf das Basisspiel, das sich Leben nennt. Ein zusätzliches Lernen durch Beobachtung und dem Sich-Hineinversetzen.

Unabdingbar ist es daher, dass Erziehungsberechtigte und Pädagogen wissen, mit welchen Geschichten und Spielen sich Kinder in welchem Alter auseinandersetzen sollten und dürfen. Wichtig dabei: Die Altersfreigaben der freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) sind nicht als Rat oder Hinweis zu verstehen. Sie sind Vorgaben auf Basis einer gesetzlichen Grundlage. Sie stellen keine Freiwilligkeit seitens der Erziehungberechtigten dar. Das Wort „freiwillig“ in der Bezeichnung bezieht sich auf die freiwillige Selbstbewertung des Filmbusiness. Dies wird oft missverstanden und daher ist der Name sicherlich nicht sonderlich klug gewählt.
Das allgemein verbreitete „Mein Kind ist kognitiv viel weiter als andere und darf das schon sehen/spielen/lesen“ ist ein individueller Irrglaube der Eltern, das dem Kind in seiner Entwicklung schaden wird. Nun haben viele von uns in der eigenen Jugend Filme gesehen, die nicht für unser Alter freigegeben waren. Ich denke, dass Grenzüberschreitungen zum Erwachsenwerden dazu gehören. Doch bedeutet dies nicht, dass dem Konsum von nichtaltersgerechten Inhalten von Erwachsenenseite aus ein Go gegeben werden sollte.

Das Lernen durch Beobachtung geschieht von selbst. Dass gilt aber auch im negativen Sinn, wenn Medien zur Nachahmung einladen. Helfen wir daher den Kindern den unbewussten Lerntransfer zu einem bewussten zu machen, indem wir ihre Medienwelten kennen, uns mit ihnen auseinandersetzen, sie ernst nehmen, nicht verteufeln aber Regeln verständlich vermitteln und mit ihnen über das Erfahrene reden.