Comics lesen im Unterricht
oder: Warum gemeinsames Comiclesen vermieden werden sollte
Foto: Gijs Versteeg (CC BY 2.0) Color graded (Original hier)
Es gibt vielfältige Möglichkeiten, Comics im Unterricht einzusetzen. Im folgenden Text geht es ausschließlich um den Einsatz als Inhaltsmedium – wenn es also um den Inhalt des Comics als Unterrichtsgegenstand geht. Der Gebrauch als Lese- bzw. Fremdsprachenübung oder auch im Kunstunterricht ist hier nicht gemeint.
Manche sehen in Comics lediglich einen ersten Einstieg in das „richtige“ Lesen, doch sie sind weit mehr: eine eigenständige Erzählform.
Es gibt viele Comicgeschichten, die es wert sind, im schulischen Rahmen behandelt zu werden, einerseits, weil diese Geschichten in keiner anderen Form existieren, oder andererseits, weil sie zugänglicher sind oder auch den Erzähl- und Wahrnehmungsraum zwischen Wort und Bild wie kein anderes Medium zu füllen vermögen. Nun können Lehrer:innen dazu geneigt sein, ein Comic wie Prosatexte zu behandeln und Auszüge gemeinsam im Unterricht (vielleicht auch mit verteilten Rollen) zu lesen.
Besser nicht.
Um das „Warum“ zu verstehen, müssen wir zuerst auf andere Medien schauen, die üblicherweise gemeinsam in der Schule konsumiert werden:
Der Film / Das Hörspiel
Hier gibt das Medium die erlebte Zeit vor. Also Filmzeit = Filmschauzeit. Bei 400 Menschen in einem Kinosaal können nicht 100 schneller als die anderen schauen. Dasselbe gilt für Hörspiele. Das ist keine Überraschung.
Der Roman
Hier hat jeder Mensch sein eigenes Lesetempo. Es gibt die Schnellleser:innen und die, die sich gerne mehr Zeit nehmen. Und es existieren unzählige Abstufungen dazwischen. Das gemeinsame Lesen funktioniert dennoch, weil sich Schüler:innen allein auf die Sequenz der Wörter konzentrieren können. Ein Wort nach dem anderen. Manche mögen ungeduldig sein und auf eigene Faust schnell weiter lesen wollen, sie werden aber trotzdem irgendwann wieder in das Lesetempo des/der Vorlesenden einsteigen, um Hören und Lesen wieder zu synchronisieren.
Nun der Comic
Beim Comic aber haben wir es einerseits mit Wörtern und Sätzen zu tun und andererseits gleichzeitig mit der Wahrnehmung von Bildern. Wie schnell und welche Teile und Aussagen eines Bildes wahrgenommen werden, ist dabei individuell höchst unterschiedlich.
Für manche wirkt ein Comicpanel wie ein Gemälde im Museum, vor dem man verweilen, in dem man schwelgen möchte und jedes Detail aufnimmt. Für andere ist dasselbe Panel wie ein Werbeplakat an einer Straße, dessen Kernaussage quasi im Vorbeifahren mitgenommen wird. Alles andere ist unwichtig.
Die Illustrationen sind im Comic aber kein Beiwerk wie bei manch einem Kinderbilderbuch, in dem die gesamte Geschichte bereits in Prosa erzählt aber nochmals in der zusätzlichen Illustration veranschaulicht wird. (Comics waren auch mal an diesem Punkt. Doch diese Zeiten sind lange vorbei.) Die Comicerzählung entsteht aus der Symbiose von Bild und Text. Jedes Element für sich allein genommen wäre ohne das andere nicht viel wert.
Das Medium Comic selbst gibt also keine Zeit vor. In der Schule beim gemeinsamen Lesen müssten sich Schüler:innen auf der Textebene bereits an das Tempo des/der Vorlesenden halten, während ihnen ihre eigene Bildwahrnehmung gleichzeitig noch einen anderen Rhythmus vorgeben würde. Die Augen wären auf gleich zwei Ebenen schneller oder langsamer. Dies kann schnell zu einem Frusterlebnis führen. Es wäre so, als ob man zwei verschiedene Songs mit verschiedenen Rhythmen gleichzeitig hören müsste. Die eigentliche Intention, das Medium Comic inhaltlich im Unterricht zu benutzen, wäre somit ad absurdum geführt, da der Inhalt sich aus dem harmonischen Zusammenspiel von Text- und Bildwahrnehmung ergibt. Die Wahrnehmung klinkt sich aus.
Was tun?
Solange Comics also inhaltlich herangezogen werden, wäre es ratsam, wenn die Schüler:innen sie daheim lesen würden oder in einer vorgegebenen Zeit im Unterricht für sich allein. (Wer früher fertig sein sollte, bekäme ergänzenden Lesestoff.)
Werden Comics auf der anderen Seite aber als pures Lesetraining verwendet, so stünde dem gemeinsamen Lesen natürlich nichts im Weg. Gerade Dialoge mit verteilten Rollen böten sich bei diesem Medium wunderbar an.
Es gibt sicherlich auch keinen Königsweg. Die Lust am Lesen entsteht wie bei allen Interessen durch Erfolgserlebnisse und der Aufrechterhaltung von Neugierde. Wichtig wäre nur, den Comic nicht mit einem Roman zu verwechseln, denn unsere Augen springen ganz anders über die illustrierten Seiten als bei puren Buchstabenreihen.
Bei alledem darf man aber nicht vergessen, dass es ja bereits ein großer Schritt ist, Comics überhaupt in den Unterricht einzubinden und das Medium und seine Potenziale ernst zu nehmen. Dieser Text soll also auf keinen Fall entmutigen, sondern als eine Perspektive (unter vielen) dazu beitragen, dass es den Unterricht langfristig bereichern möge!