Comic Review: Sentient – Kinder der K.I.


© Panini Comics, mit freundlicher Genehmigung

Es gibt Geschichten, die sich jeglicher Kritik entziehen – einfach weil sie alles richtig machen. (Doch die Kriterien, die zu dieser Aussage führen, sind im Rahmen einer Rezension selbstverständlich höchst subjektiv.) 

Also nochmal anders gestartet: „Sentient“ von Jeff Lemire (Text) und Gabriel Walta (Illustration) ist in meinen Augen eine rundum gelungene Science Fiction Geschichte, die mit einer Sicherheit und Präzision erzählt wird, welche ich sonst selten vorfinde.

Bevor ich (spoilerfrei) auf die einzelnen Aspekte des Werks in dieser Review eingehe, hier ein kleiner Handlungsteaser: Die U.S.S. Montgomery, ein Kolonieschiff der Erde, wird auf ihrer langen Reise durch das All Ziel eines brutalen Anschlags, bei dem alle Erwachsenen an Bord umkommen. Die künstliche Intelligenz VALARIE kümmert sich fortan – losgelöst von ihren Missionsprotokollen und auf sich allein gestellt – um die zahlreichen verwaisten Kinder, um sie sicher in eine neue Heimat zu führen.

© Panini Comics, mit freundlicher Genehmigung

FIGUREN

„Sentient“ erschien ursprünglich als „limited series“ des noch sehr jungen US Comic-Publishers TKO Studios. Sechs Einzelhefte umfasste die Veröffentlichung und liegt damit von der Seitenzahl her im guten Mittelfeld von Miniserien. Man kennt es von Filmen: Die Länge ist nicht ausschlaggebend für die Qualität der Erzählung. Wenn man nichts zu erzählen hat, dann kann man noch so viel Zeit zur Verfügung haben und erzählt eben wenig bis … nichts. Und die kürzesten Formate können Welten erzählen. Gewusst wie.

Jeff Lemire stellt hier sein erzählerisches Können – wie sollte es anders sein – ein weiteres Mal unter Beweis und präsentiert uns ein ganzes Ensemble an Figuren in einer fesselnden Geschichte, die obendrein noch mit diversen Wendepunkten bespickt ist. Dabei wirkt „Sentient“ an keiner Stelle gehetzt oder gerafft. Im Gegenteil. Trotz der limitierten Seitenzahl scheint es, als nehme sich die Geschichte alle Zeit, die sie braucht, und hängt nirgendwo durch.

Ich erhalte exakt die Menge an Informationen über Vergangenheit und Ziele der Figuren, um diese mit Leben zu füllen, während ich meinen Blick über die Seiten schweifen lasse und die Handlung sich vor mir entfaltet … zwischen den Zeilen … zwischen den Panels, die durch die das Artwork Gabriel Waltas einen fantastischen Leseflow erhalten haben. Überhaupt sind auf visueller Ebene die Charaktere angenehm voneinander zu unterscheiden, ohne dass auf plumpe illustrative Mittel zurückgegriffen wird. Alle Figuren wirken echt, ohne manch verrückte Attribute ihres Erscheinungsbildes, an die man sich als Leser schon fast gewöhnt hat. Ich werde mit meinen Wahrnehmungsfähigkeiten auf allen Ebenen der Comicrezeption ernst genommen. Und dies gibt der Geschichte, in der Kinder die Hauptrollen übernehmen, einen sehr erwachsenen Wind. Aber andererseits ist es bei der Bibliografie von Lemire und Walta auch kaum verwunderlich.

Selbst die Nebenfiguren erhalten durch ihre Dialoge eine Tiefe, die andere Comicmacher*innen mit noch so vielen Seiten nicht erreichen würden. Hier offenbart sich das gesamte Wunder der Comickunst. Bilder und Texte geben uns Fragmente, die zusammen in der Erzählung weit mehr ergeben als man sie quantitativ erfassen könnte. Stellvertretend für diese Qualität soll der kurze Wortwechsel im folgenden Panel herhalten:

© Panini Comics, mit freundlicher Genehmigung

„Wir sind die Guten“ Und mit dieser Aussage erhalten die Antagonisten mit einem Mal eine Tiefe, eine Ambivalenz, die uns vorher unzugänglich war.

Der nächste Punkt tut sein Übriges, um die Spannung aufzubauen und zu halten.

PERSPEKTIVE

Der Comic wird zunächst einleitend aus der Perspektive der Erwachsenen erzählt und geht dann durch den einschneidenden tragischen Vorfall über in die Perspektive der Kinder. Dadurch wird uns zu Beginn eine Orientierung im Mikrokosmos des Kolonieschiffes gegeben. Man kann die Mission (in Bruchstücken) verorten. Sobald aber die Perspektive der Kinder eingenommen wird, bleiben wir dort konsequent. Wir erfassen die Welt mit ihrem Horizont, wissen marginal mehr als sie. Insbesondere aber wechseln wir nicht auf Figuren ausserhalb des Schiffes. Wir sind nicht auf der Erde, nicht auf der Kolonie, nicht auf einem anderen Schiff.

Und diese Unwissenheit über das, was da draußen noch so vor sich geht, ergibt – ähnlich wie es in der Gestaltung von Comicpanels eine Rolle spielt – einen Negativraum, der in einem andauernden Spannungsverhältnis zum tatsächlich Erzählten steht. Wir sehen etwas. Und das, was wir nicht sehen, spielt dennoch eine Rolle. Um zu dem oben genannten Dialog zurückzukehren: Wir wissen nicht, ob die Seperatisten nicht vielleicht doch die Guten sind. Wir kennen den politischen Konflikt nicht. Wir wissen nur, dass die Mittel nicht richtig sein können …

HANDLUNG

Sechs US-Einzelhefte sind nicht sonderlich viel für einen Spannungsbogen, in dem zunächst völlig unbekannte Protagonisten eingeführt und dann in einen Handlungsablauf geworfen werden, der viele ruhige Momente und Dialoge beinhaltet, aber auch obendrein mit Action und Dramatik punkten kann. Geschichten aus großen Comicuniversen wie z.B. von Marvel oder DC können immerhin in solch einem Miniserienformat darauf bauen, dass Figuren bereits bekannt sind und nicht erneut eingeführt werden müssen.

Und trotzdem ergibt die Handlung eine wundervoll ausgewogene Fahrt durch die Geisterbahn des Weltalls. Lemires Kniff besteht u.a. darin, sich voll und ganz auf die menschlichen Beziehungen und Konflikte zu konzentrieren und vor allem jedes Ereignis und jede Entscheidung der Figuren nachvollziehbar zu gestalten. Nichts wirkt erzwungen. Keine Handlung existiert um der Handlung Willen, sondern geht aus den (nicht zuletzt antagonistischen Kräften ihrer) Figuren hervor.

Und wie nebensächlich erzählt Lemire dadurch ein ganz großes Thema, das sich durch die Geschichte zieht, nämlich das der Verantwortung. In jedem Handlungsstrang und in den Dialogen scheint dieses Thema teils kraftvoll, teils versteckt mitzuschwingen: Verantwortung der Eltern gegenüber ihren Kindern gegenüber, Verantwortung der Kinder füreinander, Verantwortung der Seperatisten ihren Zielen gegenüber und schließlich die Konsequenzen, die sich aus all den Handlungsentscheidungen ergeben. Nicht zu vergessen: zu diesen Figuren zählt vor allem auch VALARIE, die KI des Schiffes, die – zum ersten Mal frei von menschlicher Befehlsgewalt – über ihre Programmierung hinauswachsen muss, um ihren Schützlingen eine sichere Reise durch die Finsternis zu ermöglichen. Insofern ist diese Geschichte eine Geschichte über das Erwachsenwerden. Denn wie handelt man verantwortungsvoll, wenn man ohne genügend (Lebens-)Erfahrung nur auf sich zurückgeworfen wird, und wenn niemand mehr da ist, der/die einem sagen kann wie man handeln sollte?

FAZIT

„Sentient“ ist allemal einen Blick wert, insbesondere für Fans klassischer (nicht-Spektakel-orientierter) Science-Fiction. Ich für meinen Teil habe eine wundervolle Geschichte voller Spannung, Tragik und Erkenntnissen erleben dürfen.

„Sentient – Kinder der K.I.“ ist auf deutsch als Hardcoverband bei Panini Comics erschienen.


SENTIENT – KINDER DER K.I.
Text: Jeff Lemire
Zeichnung: Gabriel Walta
Verlag: Panini Comics

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Dieser Text ist ebenfalls erschienen auf: blog.modern-graphics.de