Wahnsinnige Geschwindigkeit
Gedanken über die Schnittfrequenz im Film und das Schnitttempo im Schneideraum
„It’s a question of speed, son“
(Der Barbier zu seinem Sohn in „Mein Name ist Nobody“, 10. min, 2005, Paramount Pictures, Montage: Nino Baragli)
In der Regel unterhält sich das durchschnittliche Kinopublikum nicht über die Montage eines Filmes. Nach der Vorstellung sind Gespräche über die Schauspieler*innen, die Motivation der Regie und die tollen Bilder und Effekte sicherlich interessanter, als über etwas zu reden, das bekanntlich sowieso „nicht auffällt“.
Zu der Zeit, als „James Bond – ein Quantum Trost“ die Leinwände füllte, habe ich im Kino gearbeitet und dadurch allerlei Perspektiven der Zuschauer*innen (nicht nur bei diesem Streifen) mitbekommen. Erstaunlicherweise unterhielten sich die Gäste nach dem Bond-Film vermehrt über den Schnitt. Leider nicht besonders positiv. Sätze wie „Viel zu schnell geschnitten“ und „Da bekam man ja gar nix mehr mit“ fielen. Aha. Der Schnitt macht sich durch sein „Tempo“ also bemerkbar. In diesem Fall allerdings nicht in positiver Hinsicht.
In einem Nachruf auf die am 17. April verstorbene Editorin Dede Allen schrieb der Spiegel als erstes über ihre Montagekunst:
„In den sechziger Jahren gab Allen dem US-Kino das Tempo vor, mit den rasanten, stakkatohaften Schnitten am Ende des Gangsterfilms ‚Bonnie und Clyde‘.“
(Der Spiegel Nr. 17 / 26.4.2010, Seite 166)
Wieder haben wir es mit Geschwindigkeit zu tun. In Filmrezensionen bekommt man die Wortkombination „rasant geschnitten“ übrigens besonders oft vorgesetzt. Das wäre an sich auch gar nicht schlimm, wenn doch die Montage auch in weiteren Passagen fernab von ihren „Tempo“ beschrieben und verstanden werden würde.
Ein weiteres Beispiel kommt aus einer Ausgabe des Filmmagazins „Schnitt“ (Die Printausgabe wurde 2012 eingestellt).
In der Rubrik „Dreischnitt“ wurde immer ein Film von drei verschiedenen Autor*innen analysiert. In den nachfolgenden drei Auszügen ging es um den Film „The Exploding Girl“. Wie wurde die Montage durch die wahrgenommen? Sascha Ormanns schrieb:
„Diese alltäglichen Ereignisse werden in durchdachten Einstellungen präsentiert, in denen sich die Montage besonnen zurücknimmt, beinahe entschleunigt wird. Die Schnittfrequenz von ‚The Exploding Girl‘ ist für heutige Sehgewohnheiten tatsächlich sehr niedrig, was überhaupt erst die von Eric Lin klug gewählten Kamerapositionierungen und -bewegungen möglich machen.“
(Schnitt – Das Filmmagazin, #58, 02.2010, Seite 42 und 43)
Im zweiten Text von Eleonóra Szemerey steht:
„Unaufgeregt und fast schon zu amateurhaft fängt Kameramann Eric Lin die langen Minuten ein, in denen Ivy von A nach B läuft, ihr Handy auf- und zuklappt, an die Decke starrt. Und Regisseur Bradley Rust Gray erzählt ganz beiläufig alle Bewegungen aus: läßt Ivy krumm dastehen, abwesend dreinblicken und Al Sätze sagen, von denen das Füllwort »like« länger im Gedächtnis bleibt als der eigentliche Inhalt.“
(Schnitt – Das Filmmagazin, #58, 02.2010, Seite 42 und 43)
Die Montage wird gar nicht erst erwähnt, dafür aber der Kameramann bereits zum zweiten Mal in dieser Rubrik. Aber es gibt ja noch eine dritte Perspektive:
Marieke Steinhoff schrieb:
„Die mise-en-scéne und die Montage haben dabei einen zufälligen Charakter; die Kamera lenkt den Blick oft weg von der Aktion zu den Gesichtern, die zusehen, oder hält sich weit entfernt vom Geschehen und läßt Störungen zu wie Zäune, Wände oder vorbeifahrende Autos, die den Blick versperren.“
(Schnitt – Das Filmmagazin, #58, 02.2010, Seite 42 und 43)
Die Montage steht als Begriff im „Dreischnitt“ ziemlich alleine und verloren da, ohne dass weiter auf sie eingegangen wird. Andererseits wird immer wieder der Bildaufbau zum Thema. Kein Wort zu der erzählerischen Leistung des Schnitts.
Es wird deutlich, dass das Kinopublikum gar nicht auf Abwegen ist, sondern sich vielmehr mit der medialen Wahrnehmung der Montage im Einklang steht. Der Schnitt eines Filmes ist erwähnenswert (wie im ersten Auszug des Dreischnitts), wenn man ihn durch die Wahrnehmung und mit Worten des Tempos beschreiben kann. Genauer gesagt wird er erst erkennbar, wenn seine Frequenz im Film weit über oder weit unter dem „Durchschnitt“ liegt. Eine sehr unzufriedenstellende und auch ungenaue Erkenntnis. Was wäre denn der Durchschnitt? Die Anzahl der Schnitte aller Filme eines Produktionsjahres geteilt durch die Summe aller Filmminuten?
STATISTIK ≠ AUSSAGE
Wie steht es mit der durchschnittlichen Frequenz von normalerweise „schneller“ geschnittenen Szenen wie Verfolgungsjagden? Ich greife in meine DVD Sammlung und ziehe ein Beispiel aus dem Jahre 1991 heraus: Terminator 2 (DVD Terminator 2 – Tag der Abrechnung, 2005, Kinowelt Home Entertainment, Montage: Conrad Buff, Mark Goldblatt und Richard A. Harris)
Von Minute 59:17 bis Minute 63:23 befreit John Connor mit Hilfe des T-800 seine Mutter Sarah Connor aus der Anstalt und sie fliehen zunächst zu Fuß, dann mit einem Wagen vor dem gnadenlosen T-1000. In diesen vier Minuten und sechs Sekunden wurde 169 mal geschnitten. Das ergibt eine durchschnittliche Frequenz von 41,2 Schnitten pro Minute. Würde ich dem einen aktuellen Action-Blockbuster gegenüber stellen, so wäre die Schnittfrequenz heute deutlich erkennbar viel höher.
Soweit, so gut. Was sagt aber die Frequenz über die Qualität der Montage aus? Nichts. Rein gar nichts. 0,00000000nichts. Interessant ist so eine Information vielleicht noch für jene Medienwissenschaftler*innen, die noch immer gern über das „MTV-Zeitalter“ sprechen (das mittlerweile bereits mehrfach von anderen medialen Zeitaltern eingeholt wurde). Aber für Editor*innen und auch für das Publikum selbst ist die Schnittfrequenz mehr oder minder eine Nullinformation. Genau so verhält es sich mit dem bereits erwähnten Ausspruch „rasant geschnitten“. Es ist eine Textblase in der Rezension. Eine Mitteilung, die als Warnung für Epileptiker geeignet wäre, besser nicht in einen Film mit hoher Schnittfrequenz zu gehen, aber als Wertung bei gleichzeitiger (und in dem Zusammenhang meist einziger) Nennung der Montage ist es ein Witz. Die Leistung der Montage tritt dabei nicht in Erscheinung. Ich möchte das mit Hilfe einer anderen aber sehr verwandten Kunst näher erläutern: Der Dichtung.
Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!
Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch.
Und Freud und Wonne
Aus jeder Brust
O Erd, o Sonne!
O Glück, o Lust!
(…)
(Mailied – Auszug – von Johann Wolfgang von Goethe)
Da wir gerade bei Durchschnittswerten sind: Ein Vers in diesem Gedicht (unter Berücksichtigung der nichtzitierten restlichen sechs Strophen) besteht aus durchschnittlich 3.3 Wörtern. Äußerst kurz gehalten. Aber niemand würde je darauf die Formulierung „schnell und rasant geschrieben“ benutzen. Die Kunst der Aufteilung der Verse liegt doch in der Trennung einerseits und der gleichzeitigen Bindung andererseits. Aussage auf Aussage, gleitend sich verlierend im Rausch der Wörter.
Und Goethe hat auch nicht wie ein Maniac schweißgebadet dagesessen und in einem Irrsinnstempo die Worte aufs Papier geworfen (Ich gebe zu, ich kann es nicht belegen, aber es ist schwer vorstellbar.) Worte kommen aus einem besonnenen Kopf. Es wird gefühlt, gedacht und aufgeschrieben.
SCHNELL SCHNELL
IM SCHNEIDERAUM
In der Montage verhält es sich gleichermaßen. Nur tendiert die Industrie in der Arbeitswirklichkeit dahingehend, die Schnelligkeit von Editor*innen als ein grundlegendes Qualitätsmerkmal zu betrachten. Wie schnell können welche Shortcuts auf der Tastatur gedrückt werden? Wieviele Versionen einer Szene oder eines Videoclips schafft man pro Tag? Unter wirtschaftlichen Gründen gesehen, ist dies durchaus verständlich. Alles, was länger dauert, wird für die Produktion teurer. Menschen wollen und sollen für ihre Leistungen bezahlt werden. Technik muss gemietet werden. Ein strikter Terminplan garantiert auch einen überschaubaren Ablauf zwischen den Departments (nach dem Montageprozess wären das noch Ton, Effekte und die Farbkorrektur – und nebenbei läuft noch die Vermarktung) Also kann und darf man sich verständlicherweise nicht alle Zeit der Welt lassen. Problematisch finde ich nur die Beurteilung von Editor*innen auf Basis ihres Tempos. Ist man tatsächlich schneller, wenn man unentwegt auf die Tastatur hämmert und unglaublich viele Möglichkeiten austestet? Die Zeitspanne, in der die Finger flink über die Shortcuts gleiten, hat man in Zeiten des analogen Filmschnitts mit Denken verbracht. Jeder neu gesetzte Schnitt hat die Arbeitskopie zerstört und in Mitleidenschaft gezogen. Es konnte sehr viel weniger einfach ausprobiert werden. Das hieß: Denken. Reden. Streiten. Umsetzen. Passt. Wenn nicht, nochmals von vorn: Denken…
Ich persönlich habe nichts dagegen, für die Regie eine Möglichkeit, von der ich nicht überzeugt bin, trotzdem schnell zu visualisieren. Klick Klick Klick. Bitte schön! Das ist kein Aufwand. Aber es ist etwas Technisches. Alles in allem liegt die Qualität des Schnitts in der Verständnis und Aneignung des Materials und in der Fähigkeit, dieses in den erzählerischen Prozess zu bringen. Da kann man auch schon mal auf dem Klo ganz entspannt ein Ei legen und mit einer guten Idee an den Schnittplatz zurückkommen. Der Prozess geschieht als Feuerwerk im kreativen Kopf, auch wenn man mal scheinbar nur so da sitzt ohne die Finger an der Tastatur zu haben und in die Ferne schaut.
Schnell. Immer schneller. Nur die Lichtgeschwindigkeit kann nicht überschritten werden. Montage ist nicht (primär) Geschwindigkeit. Sicher ist sie Rhythmus. Mehr noch: sie ist Strukturierung. Und noch viel mehr macht sie die eigentliche Erzählung aus. Das sollte berücksichtigt werden, wenn man über Montage redet oder schreibt. Auf die Tatsache, dass ein Film einen schnellen oder langsamen Rhythmus besitzt, muss auch das „Warum“ folgen; sonst kann man sich die vorangegangene Aussage schlichtweg sparen.
Dieser überarbeitete Text wurde ursprünglich am 13. 06. 2010 auf meinem Filmschnitt-Blog „montagedenken.de“ veröffentlicht. Der Blog ist nicht mehr existent.