Über das Staunen (und das Lernen)


»The texture of ice cream, the look of snow, the sound of a waterfall, the pleasure of holding a book in one’s hand, of standing up unsteady on one’s skates and gliding, of the first look of love one sees returned—everything that was once unfamiliar would have been filtered through wonder into one’s world.«

(Vasalou 2015, Pos. 457)

Im meiner eigenen Schulzeit habe ich wenig gestaunt. Insbesondere in der Mittel- und Oberstufe. Die Jahre waren gefüllt mit dem zähen Erlernen des Unterrichtsinhalts, dem Anwenden von Regeln und Formeln, begleitet von der ständigen Versagensangst bei mündlichen Abfragen oder bei einer Klausur. Irgendwie schaffte ich es aber doch durch’s Abi. Und was blieb positiv hängen? Was wirkte als Antrieb weit über die Schulzeit hinaus? Bis heute sind es jene Momente, in denen Staunen mich erfüllte.

Ich erinnere mich wie mein Lehrer im Kunst-Leistungskurs der Oberstufe das Thema „Kohle- und Kreidezeichnung“ einführte. Während er da vorne stand und voller Begeisterung über diese Zeichentechnik redete, rieb er wie nebenbei mit der Breitseite der Kreide über die Tafel. Es waren nur ein paar weiße Flächen, die sich aber wie von Zauberhand zu einem Selbstportrait unseres Lehrers zusammenfügten.
Der Jugendliche, der ich war, und der in vielen anderen Fächern nur das Abarbeiten von Stoff wahrnahm (bzw. ertrug), war in diesem Moment von Staunen erfüllt.

Dieses Erlebnis machte mich nicht zum Kohle- und Kreideprofi. Nein, denn ich kann ich immer noch nicht gescheit damit umgehen. Doch aus Momenten wie diesen erwuchs Faszination. Eine beständige Faszination.

Wie verhält es sich mit der Bedeutung des Staunens im Zusammenhang mit dem Lernen? Ist das Staunen nicht der Ursprung des Lernens und des Erfahrens? Alles Unbekannte wird durch das Staunen gefiltert, wie es Sophia Vasalou im obigen Zitat ausdrückte. Doch ist ab einem bestimmten Alter ein Staunen nicht überflüssig für die Aneignung von Wissen? Wie erwähnt: Ich habe mein Abi auch ohne viel Staunen geschafft. Viele Fächer ließen mich kalt. Es entstand keine Verbindung zu „dem Stoff“, geschweige denn Begeisterung. Das Interesse an der Schönheit unserer Sprache entstand erst Jahre nach meiner Schulzeit. Ebenso die Faszination für die Wissenschaften. Die meisten Schulmomente haben nicht viel dazu beigetragen. Und es erfüllt mich mit Betrübtheit in Anbetracht der verlorenen Zeit.
Es hätte alles so viel früher beginnen können. Aber das tat es nicht.

Das Erhabene und das Schöne

Immanuel Kant erwähnte das Staunen in Zusammenhang einer Konfrontation mit dem Erhabenen:

»Die Miene des Menschen, der im vollen Gefühl des Erhabenen sich befindet, ist ernsthaft, bisweilen starr und erstaunt.«

(Kant 2024, Kap. 1 / Abs. 5)

Das Staunen verschlägt einem die Sprache. Aber tut dies das Staunen an sich, oder ist es nicht vielmehr das Objekt, worüber wir staunen, das Objekt, das uns sprachlos werden lässt? Es ist das (zunächst) nicht Begreifbare, es ist das Neue, was infolge des Staunens unsere Neugierde aktiviert, welche schließlich fragt: Wie ist das möglich? Was ist hier los? Und schließlich finden wir Worte und Taten, um das Unbekannte zu verstehen, es uns anzueignen und neue Wunder zu erschaffen. Seien es mathematische, philosophische, sprachliche oder künstlerische Wunder. (Alle anderen Bereiche, die hier nicht aufgezählt wurden, gehören selbstverständlich dazu.)

Dabei ist das Objekt des Bestaunens in seiner Unbegreiflichkeit wahnsinnig einfach … und schlicht:

»Das Erhabene muß jederzeit groß, das Schöne kann auch klein sein. Das Erhabene muß einfältig, das Schöne kann geputzt und geziert sein.«

(Kant 2024, Kap. 1 / Abs. 6)

„Einfältig“ ist das Erhabene im ursprünglichen Wortsinn zu begreifen: einfach. Es wird nicht geschmückt, nicht „gemacht“. Es ist, wie es ist, und dadurch wirkt es erhaben.

Das Schöne („geputzt“ und „geziert“) deute ich in meiner Interpretation im Zusammenhang mit dem Lernen als: die Freude. Die Freude am Lernen, die Freude voranzukommen, die Freude Selbstwirksamkeit zu erfahren, auch die einfache Freude in die Schule zu gehen und Freunde zu treffen.

Das Schöne kann erschaffen werden. Es kann geplant werden. Der Spaß am Lernen, der Spaß am Unterricht kann direkt von der Lehrkraft beeinflusst und oft sogar geschickt gelenkt werden.

Wie verhält es sich also mit dem beschriebenen Kreidebild meines Kunstlehrers? So gelesen ist es eine kleine Show gewesen. Eine gelungene Einlage. Ein Zaubertrick. Insofern hatte ich damals etwas „Schönes“ erfahren, das mir Freude am Kunstunterricht brachte. Aber war es „erhaben“?

Lebenslanges Staunen

Die Formung von Schönheit und der damit zusammenhängenden Freude an der Schönheit kann selbstverständlich auch nach hinten losgehen. Eine schauspielerische Einlage oder ein „Zaubertrick“ kann im Unterricht von den Lernenden schnell als lächerlich abgetan werden (die Zielgruppe würde einen solchen verpatzten Moment wohl als „cringe“ bezeichnen). Und selbst wenn erfolgreich: der Spaß ist nie von Dauer. Ganz im Gegensatz zu dem, was das Erhabene – und damit wahrhaftiges Staunen – in uns auslöst.

Staunen ist ein wesentlicher und vor allem nachhaltiger Grund für das Bedürfnis nach Erkenntnis. Und dies gleichwohl im Kindesalter wie auch in hochbetagten Jahren.

»For if wonder is the gasp torn from us as children when we are confronted with something hitherto unseen, there is also another kind of gasp that is torn from us as adults when we study more closely—as scientists, as philosophers, as student of spiritual techniques—what has already been thousand times seen and see it again.«

(Vasalou 2015, Pos. 109)

Vasalou beschreibt hier einen Punkt, der für ein Verständnis der Bedeutung des Staunens für das Lernen von großer Bedeutung ist. „(…) what has already been thousand times seen and see it again.“ Sie beschreibt die Fähigkeit, Dinge und Verhältnisse nicht nur beim erstmaligen Erleben zu bestaunen, sondern immer und immer wieder. Und immer als etwas neues.

Was mich seinerzeit im Kunstunterricht tatsächlich ins nachhaltige Staunen versetzte, war nicht das Zeichenkunststück an der Tafel. Es war das „Wie“ meines Lehrers. Es war die Art und Weise, wie er über Kunst sprach und dies gleichzeitig visualisierte. Es war seine pure Begeisterung und spürbare Liebe zur Kunst und zu dem, was er in genau jenem Moment tat, was mich zum Staunen brachte. Das Erhabene in seiner unbegreiflichen Einfachheit war die Persönlichkeit meines Lehrers. Das Schöne (das unterhaltsame) war die Zeichnung.

Das eigene Staunen

Mein Lehrer hatte selbst nie aufgehört über die Kunst zu staunen. Wie vielen Jahrgängen vor meinem hatte er bereits die immerselben Themen nahegebracht? Wie oft hat er die Nummer mit der Kreidezeichnung wiederholt? Und dennoch hatte er es uns so vermittelt, als würde er die Kunst der Kreide- und Kohletechnik zum ersten Mal beschreiben. Mit all der Faszination, die die Erhabenheit von etwas Neuem mit sich bringt.

Was sagt uns dies über das Lernen (und das Lehren)? Wir können keine erhabenen Momente erschaffen. Wir können das wahrhaftige Staunen, welches nachhaltig wirkt, nicht planen. Denn es sind die Dinge „an sich“, die das Staunen auslösen.

Doch können wir selbst zu der Entstehung des Staunens indirekt beitragen, indem wir unser eigenes Staunen nicht verlernen. Dinge, die schon so oft und immer wieder erklärt wurden, können (und sollten) gerade von Lehrenden so betrachtet und erklärt werden als wäre es immer wieder das erste Mal. Mit all der Faszination und mit all der Begeisterung für das, was allgemein nur lieblos als „Stoff“ bezeichnet wird. Dabei verbergen sich in diesem „Stoff“ all die Wunder unseres Seins, unserer Wahrnehmung und der Existenz des Universums.

Wir brauchen das Erhabene als auch das Schöne im Unterricht:

»Diejenige, welche beiderlei Gefühl in sich vereinbaren, werden finden: daß die Rührung von dem Erhabenen mächtiger ist wie die des Schönen, nur daß sie ohne Abwechslung oder Begleitung der letzteren ermüdet und nicht so lange genossen werden kann.«

(Kant 2024, Kap. 2 / Abs. 2)

Zum Abschluss möchte ich noch ein weiteres Zitat aus Sophie Vasalous Buch „Wonder: a grammar“ heranziehen und es ohne weiteren Kommentar wirken lassen:

»To wonder: to be dazzled by seeing, to truly remark, to be alive in the consciousness of what stands before our eyes; to see, to really see.«

(Vasalou 2015, Pos. 4100)

PS: Danke, Harald Schulze, für eine faszinierende Zeit im Leistungskurs Kunst.


Literatur:

Vasalou, Sophia, 2015: Wonder: a grammar, State University of New York Press, Albany (E-Book)

Kant, Immanuel, 2024: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, FV Èditions (E-Book)

Gess, Nicola, 2019: Staunen – Eine Poetik, Wallstein Verlag, Göttingen